Abstract:
The specialty of hybrid nouns is their different agreement according to certain features of the agreement target. They result from a conflict within in the gender assignment system. For example, the German noun Mädchen (semi-transparent diminutive for denoting a girl) is grammatical neuter but it refers to a female person. In German, nouns denoting females are feminine but diminutives are neuter. Since both rules apply, you can refer to Mädchen with a neuter (es) but also with a feminine pronoun (sie). There are different factors which influence the agreement pattern: the linear distance between noun and pronoun and the type of agreement target. So far there are only few studies on the influence of possible non-grammatical factors such as the age of the referent. In this paper, I elaborate on those factors and present the results of a discourse completion task focusing on the influence of a sexualized context.
Artikel/Articles
Genus und Sexus im Konflikt. Kongruenzformen hybrider Nomina im Sprachproduktionsprozess
Traditionell wird das Genussystem des Deutschen als Kongruenzsystem beschrieben, in welchem das Genus eine dem Nomen inhärente Kategorie ist. Demnach ist jedes Nomen im mentalen Lexikon zusammen mit einem festen Genusmerkmal abgespeichert (cf. u. a. RonnebergerSibold 2004; Hoberg 2004). Gegen die ausschließlich lexikalistische Sichtweise auf das Genussystem und für eine Erweiterung der Konzeptualisierung unter Einbezug der Regelhaftigkeit, der Motiviertheit und der Funktionalität des Genus wurde in der Vergangenheit aus unterschiedlichen Perspektiven argumentiert. Corbett (1991) zeigt die Motiviertheit von Genussystemen in verschiedenen Sprachen auf. Für die deutsche Sprache argumentieren Köpcke.Zubin (2017) für eine Verankerung des Genus in der Pragmatik und der Syntax. Nübling.Busley.Drenda (2013) sowie Busley.Fritzinger (2018; sowie der Beitrag in diesem Band) können anhand der neutral markierten Frauenrufnamen (z. B. das Anna) zeigen, dass Genus in einigen Dialekten als Beziehungsanzeiger fungieren kann und die jeweilige Genuszuweisung (F oder N) durch unterschiedliche soziopragmatische Faktoren motiviert ist. Binanzer (2017) beleuchtet den Erwerb des deutschen Genussystems durch L1und L2-Lerner und liefert auf dieser Grundlage ebenfalls Evidenz für eine Erweiterung der Modellierung des Genusystems.
Auch der vorliegende Beitrag schließt sich dieser Sichtweise an und argumentiert anhand der hybriden Nomina gegen die rein lexikalische Verortung des Genus. Grundlage dieser Argumentation sind die Ergebnisse einer durchgeführten Fragebogenuntersuchung zu Kongruenzformen hybrider Nomina. Während das hybride Nomen selbst ein festes Genus aufweist, kann bei den Kongruenzformen außerhalb der NP eine dynamische Genuszuweisung beobachtet werden. Es zeigen sich signifikante Unterschiede in den Kongruenzentscheidungen für gleichbleibende grammatische Bedingungen bei variierenden Kontexten.
Anhand der Beispielsätze (1) und (2) können zwei Charakteristika der deutschen Sprache beschrieben werden.
(1) EineF netteF FrauF steht an der Ampel. SieF isst ein Eis.
(2) EinM netterM MannM steht an der Ampel. ErM isst ein Eis.
Das Genus von Menschenbezeichnungen ist in der Regel semantisch motiviert. Es besteht also eine Korrelation von Genus und Sexus. Ferner läuft die Kongruenzmarkierung üblicherweise rein syntaktisch ab: Das kontrollierende Nomen Frau (Femininum) bzw. Mann (Maskulinum) überträgt sein Genusmerkmal (F bzw. M) auf alle genussensitiven adnominalen und pronominalen Ziele.
Hybride Nomina weichen von diesem Verhalten ab. Einerseits trifft die übliche Kombination der Merkmale Femininum und [+weiblich] bzw. Maskulinum und [+männlich] nicht zu (cf. Corbett 1991). Ein Beispiel ist das Neutrum Mädchen, welches jedoch das semantische Merkmal [+weiblich] trägt. Zusätzlich weicht auch das Verhalten ihrer Kongruenzformen von anderen Nomina ab. Während Pronomina ausschließlich syntaktisch mit ihrem Antezedens kongruieren, ist bei Kongruenzformen hybrider Nomina Variation zu beobachten. Während innerhalb der NP konsequent neutrale Kongruenzformen gewählt werden, ist außerhalb der NP jedoch auch die genusdeviante Form möglich. Soll auf Mädchen durch ein Personalpronomen referiert werden, kann es aufgrund der unterschiedlichen genusdeterminierenden Merkmale zu einem Genus-Sexus-Konflikt kommen. Auf der Basis des grammatischen Geschlechts von Mädchen kann ein neutrales Personalpronomen gewählt werden. Darüber hinaus kann auch ein feminines Pronomen gewählt werden. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass dieses feminine Pronomen in Abhängigkeit der außersprachlichen Konzeptualisierung der Referentin gewählt wird. Das Genusmerkmal wird an dieser Stelle folglich nicht aus dem Lexikon entnommen, sondern die Konzeptualisierung des Referenten dient als Quelle für das Genus. Das kann zu variierenden Kongruenzformen führen (Beispiel 3 und 4).
(3) EinN nettesN MädchenN steht an der Ampel. EsN isst ein Eis.
(4) EinN nettesN MädchenN steht an der Ampel. SieF isst ein Eis.
Für die Beschreibung dieses Phänomens werden unterschiedliche Termini verwendet. Es finden sich die Bezeichnungen syntactic und semantic agreement (Corbett 1991), Genusund Sexuskongruenz (Birkenes/Chroni/Fleischer 2014) oder auch grammatische und biologische Kongruenz (Oelkers 1996). In Anlehnung an Köpcke (2012) werden in diesem Beitrag die Termini grammatische und pragmatische Kongruenz verwendet, da davon ausgegangen wird, dass durch die Wahl der pragmatischen Kongruenzform auch eine persönliche Sprecherhaltung zum Ausdruck gebracht werden kann. In (3) referiert das Personalpronomen auf den Auslöser Mädchen und dessen grammatisches Genusmerkmal. Die feminine Kongruenzform in (4) refereriert auf ein außersprachliches Merkmal – das natürliche Geschlecht des Referenten von Mädchen. Es zeigt sich, dass Kongruenz nicht nur auf grammatischer, sondern auch auf konzeptueller Ebene hergestellt werden kann.
Bisherige Untersuchungen beleuchten neben den Charakteristika der hybriden Nomina (cf. Köpcke/Zubin 2003; Nübling 2014b) vor allem das Kongruenzverhalten genussensitiver Targets. Die durch Corbett (1979; 2006) entwickelte Agreement Hierarchy bildet das Kongruenzverhalten in Abhängigkeit des Targettyps ab. Grammatische und pragmatische Kongruenz sind dabei die Pole eines Kontinuums, auf welchem die Elemente hierarchisch angeordnet sind. Die Elemente auf der linken Seite des Kontinuums tendieren zu grammatischer Kongruenz. Die Wahrscheinlichkeit für pragmatische Kongruenz nimmt zu, je weiter rechts auf dem Kontinuum das Element angeordnet ist:
attributive > predicate > relative pronoun > personal pronoun
Da diese Hierarchie universalsprachlichen Charakter hat, kann sie auch für die deutsche Sprache angewendet werden. Lediglich die Kategorie predicate bleibt unberücksichtigt, da im Deutschen das Genus in der verbalen Flexion nicht abgebildet wird. Außerdem wird die Hierarchie um weitere Pronomentypen ergänzt (cf. Köpcke/Panther/Zubin 2010):
Attributiv > Relativ> Demonstrativ> Possessiv-/Personalpronomen
Neben dem pronominalen Typus beeinflusst auch die lineare Distanz (Abstand in Wörtern oder Silben) zwischen Controller und Target die Wahl der Kongruenzform. Mit zunehmender Distanz zum Auslöser steigt auch die Wahrscheinlichkeit für pragmatische Kongruenz (cf. Thurmair 2006; Birkenes/Chroni/Fleischer 2014; Oelkers 1996). Köpcke/Zubin (2009) erklären den Wechsel zur pragmatischen Kongruenz mit dem „Auslöseraktivierungsprinzip“. Mit zunehmender Distanz zum Antezedens verblassen dessen grammatische Merkmale und nur noch die konzeptuellen Eigenschaften sind präsent.
Birkenes/Chroni/Fleischer (2014) zeigen in einer umfassenden Untersuchung literarischer Texte des 17. bis 19. Jahrhunderts anhand fünf unterschiedlicher hybrider Nomina den Einfluss der grammatischen Einflussfaktoren Distanz und pronominaler Typus auf das Kongruenzverhalten. Darüber hinaus existieren auch einige Ansätze, die Einflussfaktoren außerhalb der Grammatik in Betracht ziehen (Braun/Haig 2010; Panther 2009; Robinson 2010). Hier wird die Konzeptualisierung des Diskursreferenten als Faktor für die Zuweisung des Genusmerkmals genannt. Insbesondere das Alter der Referenzfigur scheint dabei eine Rolle zu spielen. Braun.Haig (2010) können in einer Fragebogenuntersuchung zeigen, dass das Alter der Referenzperson von Mädchen einen Einfluss auf die Wahl des Pronomens nimmt. Vor dem Eintritt in die Pubertät scheint das biologische Geschlecht bei Kindern sowohl sprachlich als auch gesellschaftlich keine große Relevanz zu haben und wird daher seltener markiert.
Anhand einer Fragebogenstudie soll in diesem Beitrag gezeigt werden, dass die Konzeptualisierung des Referenten im Diskurs (in diesem Fall Mädchen) einen entscheidenden Einflussfaktor auf die Wahl der Kongruenzform darstellt. Je sexualisierter der Kontext ist, desto wahrscheinlicher ist eine Entscheidung für eine pragmatische Kongruenzform. Erste Evidenz für diese These konnte bereits in einer Korpusstudie gewonnen werden (cf. Hübner 2021). In einer Analyse journalistischer Texte aus den Jahren 1950 bis 2000 wurde gezeigt, dass die variierenden Kongruenzformen für ähnliche sprachstrukturelle Gegebenheiten des hybriden Nomens Mädchen am umfassendsten durch eine Interaktion von grammatischen und pragmatischen Einflussfaktoren erklärt werden können. Das Ergebnis dieser Korpusstudie ist eine Reihe von Faktoren, die alleine oder in Kombination die Entscheidung zugunsten der grammatischen bzw. pragmatischen Kongruenzform beeinflussen. In Bezug auf die grammatischen Einflussfaktoren konnten zuvor durchgeführte Untersuchungen bestätigt werden. Eine möglichst große lineare Distanz zwischen Antezedens und Pronomen sowie ein Possessivoder Personalpronomen als Targettyp erhöhen die Wahrscheinlichkeit für eine pragmatische Kongruenzform. Darüber hinaus scheinen jedoch folgende weitere Faktoren Einfluss auf die Kongruenzentscheidung zu nehmen:
Wird das Mädchen in einem explizit seuxalisierten Kontext dargestellt, bezieht sich Mädchen auf eine reife Referenzperson oder interagiert das Mädchen im beschriebenen Kontext mit einem Mann, steigt die Wahrscheinlichkeit für pragmatische Kongruenzformen. Wenn diese drei Faktoren in Kombination auftreten, finden sich fast ausschließlich pragmatisch kongruierende Formen. Während die Korpusstudie durch die Analyse journalistischer Texte die Kongruenzentscheidungen professioneller SchreiberInnen untersucht, nimmt die Fragebogenstudie eher laienhafte SchreiberInnen in den Blick. Die Studie wurde mit Studierenden der Germanistik der FU Berlin durchgeführt, welche jedoch im Laufe ihres Studiums mit dem Thema Genus noch nicht explizit in Berührung gekommen waren. Obwohl die Studierenden keine professionellen SchreiberInnen sind, lassen sich präskriptive Vorurteile natürlich nicht gänzlich vermeiden. Der Fragebogen bietet darüber hinaus den Vorteil, dass einzelne Faktoren sowie bestimmte Kombinationen von Faktoren isoliert auf ihre Gültigkeit überprüft werden können. Um die Teilnehmenden zu einer Kongruenzentscheidung zu zwingen, wurde eine discourse completion task gewählt, bei der ein kurzer Textabschnitt durch einen Relativsatz mithilfe vorgegebener Wörter beendet werden sollte. Dabei werden die grammatischen Einflussfaktoren stets konstant gehalten und lediglich die kontextuellen Faktoren variieren.
Aufgrund seiner neutralen Semantik wurde wie in der Korpusstudie für die discourse completion task als Antezedens Mädchen gewählt. Größtenteils können neutrale Frauenbezeichnungen mit soziokulturellen Stereotypen erklärt werden und weisen eine pejorative Bedeutung auf wie beispielsweise Luder, Stück oder Weib (Köpcke/Zubin 2003; Nübling 2011). Das hybride Nomen Mädchenkann zwar pejorisierend und auch sexualisierend verwendet werden, diese Bedeutung ergibt sich jedoch im Gegensatz zu den anderen Nomina aus dem Kontext und nicht aus dem Lexem selbst. Ohne entsprechende Kontextualisierung wird eindeutig auf eine junge weibliche Person referiert.
Um den optimalen grammatischen Kontext für die Durchführung dieser Studie zu finden, wurden einige Vorstudien durchgeführt. Diese sollten sicherstellen, dass die grammatische Struktur sowohl grammatische als auch pragmatische Kongruenzformen ermöglicht bzw. beide Formen grammatisch akzeptabel erscheinen. In einer ersten Studie mit 15 Teilnehmenden sollten 10 Sätze (plus 15 Filler) vervollständigt werden. Dabei wurde in der Regel das Personalpronomen in einem Abstand von vier Wörtern produziert (5).
(5) Mitte Januar 2016 kam ein etwa siebenjähriges Mädchen herein und fragte, ob (kurz – sich aufwärmen)
Die Teilnehmenden entschieden sich hier fast ausschließlich für pragmatische Kongruenzformen. In einem weiteren Test (N=15) musste das Personalpronomen in einer linearen Distanz von lediglich zwei Wörtern ergänzt werden. Trotz der geringen Distanz entschieden sich die Teilnehmenden wieder fast ausschließlich für pragmatisch kongruierende Personalpronomina. Aus diesem Grund wurde schließlich mit dem Relativpronomen ein synktaktisch gebundenes Pronomen gewählt, welches jedoch in einer Distanz von vier Wörtern zum Controller steht (6).
(6) Auf dem Podest tanzte an der Stange ein heißes Mädchen mit tollen, knackigen Brüsten, (tragen – nur – Slip)
Etwas problematisch sind dabei die Kontexte, welche das Alter des Mädchens beinhalten. Außer im Fall von Pädophilie oder Vergewaltungsszenarien korrelieren sexuelle Kontexte mit einer reifen Referenzperson. Aus Gründen der Vergleichbarkeit wurde auf eine Kombination von sexuellen Kontexten mit kindlichen Referenzpersonen verzichtet. Um den Umfang des Fragebogens möglichst gering zu halten, wurde darüber hinaus auf die Kombination von sexuellem Kontext und weiblichem Interaktionspartner verzichtet. Für eine weitere Untersuchung wäre diese Merkmalskombination aber ebenfalls interessant. Daraus ergeben sich schließlich sechs zu testende Merkmalskombinationen aus zwei Einflussfaktoren, wobei jede Kombination anhand zweier unterschiedlicher Items (A und B) abgeprüft wird:1
Die Items wurden innerhalb des Fragebogens in zwei unterschiedlichen Reihenfolgen (Version A und B) angeordnet und um 15 Fillersätze ergänzt.
Je nach Merkmalskombination wird eine unterschiedlich starke Tendenz zu grammatischen bzw. pragmatischen Kongruenzformen erwartet. In Bezug auf das erwartete Kongruenzverhalten wurden die Merkmalskombinationen zuvor auf einem Kontinuum angeordnet (Abbildung 1).
Zwei Teilnehmende mussten von der Untersuchung ausgeschlossen werden, da sie im Kommentarfeld angemerkt haben, dass sie den Fragebogen für sexistisch halten und ihn deshalb nicht bis zum Ende ausgefüllt haben. Zwei Studierende wurden ausgeschlossen, da Deutsch nur als Fremdsprache erworben wurde. Darüber hinaus mussten natürlich solche Antworten unberücksichtigt bleiben, in denen kein Relativpronomen verwendet wurde. Von den übrigen Fragebögen haben sich 19% der Teilnehmenden in allen Kontexten ausschließlich für grammatisch kongruierende Pronomina entschieden und weitere 8% wählten ausschließlich pragmatische Kongruenzformen. Da es hier nur eine mögliche Kongruenzform für Mädchen zu geben scheint, wurden die Antworten dieser Teilnehmenden für die weitere Untersuchung nicht weiter berücksichtigt. Bei den übrigen Teilnehmenden (N=138, 102 W und 32 M, 4 keine Angabe, Ø 21 Jahre) finden sich variierende Kongruenzformen.
Ungeachtet der Aufforderung sich spontan zu entscheiden und die erste Entscheidung nicht mehr zu revidieren, finden sich insgesamt 15 Items, bei denen die Teilnehmenden sich umentschieden haben und das zunächst gewählte Pronomen ersetzt haben. Interessant ist an dieser Stelle, dass dies ausschließlich in eine Richtung geschieht. Die pragmatische Kongruenz wird zugunsten einer grammatischen Kongruenzform geändert. Änderungen von grammatischer Kongruenz zu pragmatischer finden sich nicht. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Teilnehmenden aufgrund des Fragebogenkontexts ihre Auswahl überdacht und zu einer vermeintlich normkonformeren Antwort geändert haben.
Obwohl es sich bei dem Targettyp um ein Relativpronomen handelt, das laut Agreement Hierarchy am stärksten zu grammatischer Kongruenz tendiert, finden sich insgesamt 34% sexuskongruente Pronomina. Bei einer größeren Distanz zum Auslöser kann demgemäß auch ein syntaktisch gebundenes Relativpronomen pragmatische Kongruenz aufweisen. Bezogen auf die Gesamtheit aller Antworten zeigt die Verteilung der Kongruenzformen in Abhängigkeit nach Geschlecht keine Auffälligkeiten. Männer und Frauen scheinen in diesem Fall ähnliche Kongruenzentscheidungen zu treffen: Die Teilnehmerinnen wählen zu 34% eine pragmatische Kongruenzform und die Teilnehmer zu 37%. Allerdings ist dieses Ergebnis aufgrund der geringen Anzahl an männlichen Teilnehmern nicht valide.
Für die Bestätigung der eingangs aufgestellen Hypothese ist die Auswertung der Kongruenzentscheidungen je nach Merkmalskombination von Bedeutung. Eine zunächst getrennte Auswertung der Items hat ergeben, dass die Probanden bei Item A und Item B einer Merkmalskombination in der Regel sehr ähnliche Kongruenzentscheidungen treffen.2 Lediglich in einem Item gibt es eine große Abweichung von über 30%. Dieses Item wurde aufgrund eines möglichen Konstruktionsfehlers von der Auswertung ausgeschlossen und wird am Ende dieses Kapitels separat diskutiert. Bei den restlichen Items liegen die Werte von Item A und B allerdings sehr nah zusammen und eine gemeinsame Auswertung der beiden Kontexte erscheint legitim.
Abbildung 2 zeigt die Übersicht über die gewählten Kongruenzformen in Abhängigkeit der Merkmalskombinationen. Wie erwartet, weist die Merkmalskombination 1 (kindliche Referenzperson und neutraler Kontext) die wenigsten pragmatischen Kongruenzformen (19%) auf. Bei ebenfalls neutralem Kontext, aber einem explizit reifen Mädchen wird in 35% der Fälle ein pragmatisch kongruierendes Pronomen gewählt. Das Alter des Mädchens (Kontexte 1 und 2) hat somit einen signifikanten Einfluss (χ2 (1) = 8,7***, p <0,01) auf die Wahl der Kongruenzform und führt zum pronominalen Wechsel. Kontexte 2 und 3 unterscheiden sich im Faktor Sexualisierung des Kontextes. Während in neutralen Kontexten lediglich zu 35% pragmatische Kongruenz gewählt wird, entscheiden sich die Teilnehmenden im Fall eines sexuellen Kontextes zu 55% dafür. Hier liegt mit χ2 (1) = 9,9***, p <0,01 der signfikanteste Unterschied vor. Das Geschlecht des Interaktionspartners (Kontexte 4 und 5) hat ebenfalls einen Einfluss auf die Kongruenzform. Wie erwartet, überwiegen in beiden (neutralen) Kontexten die grammatischen Kongruenzformen. Bei einem weiblichen Interaktionspartner wird zu 25% ein pragmatisch kongruierendes Pronomen gewählt, bei einem männlichen Interaktionspartner zu 38%. Dieser Unterschied ist mit χ2 (1) = 5,2**, p <0,025 ebenfalls signifikant.
Der Vergleich der Items 2 und 3 hat gezeigt, dass die Sexualisierung des Kontextes Einfluss auf die Entscheidung der Teilnehmenden hat. Wenn der sexuelle Kontext allerdings mit einem männlichen Interaktionspartner kombiniert wird (6), entschieden sich die Teilnehmenden anders als erwartet. In einem neutralen Kontext mit männlichem Interaktionspartner entschieden sich 38% der Teilnehmenden für pragmatische Kongruenz, in einem sexuellen Kontext entgegen der Erwartungen lediglich 31%. Dieser Unterschied ist jedoch nicht signfikant.
Wie bereits angedeutet, unterscheiden sich bei der Merkmalskombination 1 (kindlich und neutral) die Kongruenzformen der beiden Items stark voneinander (7 und 8).
(7) Mitte Januar 2016 kam ein etwa siebenjähriges Mädchen in den kleinen Spielzeugladen, (Puppe – haben – wollen)
(8) Fast alle Kinder sind schon wieder im Klassenzimmer. Durch das Fenster sieht man nur noch ein kleines Mädchen von etwa sechs Jahren, (alleine – Hof – stehen)
Obwohl das Mädchen in (7) als kindlich beschrieben wird und der Kontext nicht sexualisiert ist, entschieden sich 45% der Teilnehmenden für ein pragmatisch kongruierendes Pronomen. Eine mögliche Erklärung kann in der ungleichen Itemkonstruktion in Bezug auf die Agentivität liegen. Während in (7) MädchenSubjekt eines transitiven Verbes ist und somit ein höherer Grad an Agentivität vorliegt, findet sich in (8) ein intransitives Zustandsverb.3 Anders als bei bewusstem Abweichen von der Genus-Sexus-Kongruenz bei pejorativen Personenbezeichnungen besteht bei der Wahl eines neutralen Pronomens zwar grammatische Kongruenz zum Antezedens, jedoch nicht zur außersprachlichen Referenzperson. In Anlehnung an Nübling (2014a; b) könnte vermutet werden, dass das Neutrum in (8) gewählt wurde, um die Deagentivität und eventuelle Hilflosigkeit des Mädchens zu unterstreichen, während in (7) die Agentivität durch die pragmatische Kongruenz betont wird. Dieser Beobachtung sollte in einer weiteren Untersuchung nachgegangen werden.
Die getroffenen Kongruenzentscheidungen unterscheiden sich trotz gleichbleibender grammatischer Strukturen. Dadurch konnte gezeigt werden, dass in der Sprachproduktion die Genusmarkierung der Kongruenzformen hybrider Nomina nicht nur von grammatischen Faktoren sondern auch von kontextuellen, pragmatischen Faktoren abhängig ist. Für die pragmatische Kongruenz kann in diesem Fall nicht ein zusammen mit dem Nomen gespeichertes lexikalisches Genus verantwortlich sein, sondern neben den grammatischen Einflussfaktoren auch die pragmatische Projektion innerhalb des Kontextes. Vor diesem Hintergrund scheint eine ausschließlich lexikalische Verortung des Genus nicht angemessen.
Diese Pilotstudie stellt lediglich einen weiteren Schritt zur Systematisierung der möglichen kontextuellen Einflussfaktoren auf die Kongruenzentscheidung dar und es müssen einige Fragen unbeantwortet bleiben. Es sollte überprüft werden, welchen Einfluss die Agentivität auf die Auswahl der Kongruenzformen hat. Der Vergleich der Kontexte 4 und 5 legt weiterhin die Frage nah, inwieweit das Genus auch die Funktion der Perspektivierung übernehmen kann.
Obwohl der Kontext jeweils neutral war und sich lediglich das Geschlecht des Interaktionspartners veränderte, unterschieden sich die gewählten Kongruenzformen signifikant. Ein möglicher Einflussfaktor könnte in Anlehnung an Köpcke (2012) eine Art Perspektivierung des beschriebenen Geschehens durch einen männlichen bzw. weiblichen Interaktionspartner sein. Köpcke (2012) stellt anhand eines Romansauszugs aus Koeppens „Tauben im Gras“ die Vermutung auf, dass die dort vorliegende Variation der Kongruenzformen auf den Wechsel von auktorialer Erzählerperspektive hin zu der Perspektivierung des beschriebenen Fräuleins durch den männlichen Protagonisten zurückzuführen ist.
Neben weiteren Einflussfaktoren innerhalb des Kontextes sollte auch der Einfluss des Antezedens überprüft werden. Insbesondere das Kongruenzverhalten von Pronomina, welche auf hybride Männerbezeichnungen (die Memme, die Tunte) oder auf sexusunspezifische Nomina (das Model, das Opfer) referieren, wurden bisher noch nicht systematisch untersucht.
Fast alle Kinder sind schon wieder im Klassenzimmer. Durch das Fenster sieht man nur noch ein kleines Mädchen von etwa sechs Jahren, (alleine – Hof – stehen)
Mitte Januar 2016 kam ein etwa siebenjähriges Mädchen in den kleinen Spielzeugladen, (Puppe – haben – wollen)
In das Pfandhaus kam letztens ein circa 18-jähriges Mädchen mit braunen langen Haaren, (sich Geld leihen – wollen)
Es war ein sonniger Nachmittag. Gegen 3 Uhr kam ein 18-jähriges Mädchen mit cooler Sonnenbrille herein, (Buch – ausleihen wollen)
Auf dem Podest tanzte an der Stange ein heißes Mädchen mit tollen, knackigen Brüsten, (tragen – nur – Slip)
Im Bordell war es an diesem Abend sehr voll. Nach einiger Zeit erschien ein vollbusiges Mädchen in einem hautengen Kleid, (verführerisch – Hüften – kreisen)
Anna war auf der Suche nach einer Apotheke, aber auf dem Marktplatz stand nur ein Mädchen mit einem großen Rucksack, (verreisen – wollen)
Anja arbeitete seit Jahren als Arzthelferin. Gestern kam in der offenen Sprechstunde ein verwirrtes Mädchen mit Schmerzen am Kopf, (dringend – Hilfe brauchen)
Der Mann betrat gegen Abend das Café und wollte Mohnkuchen kaufen. In der Schlange vor ihm stand ein Mädchen mit einer großen Tasche, (Erdbeerkuchen – bestellen wollen)
Helmut war ein erfahrener Polizist und sorgte für Ruhe und Ordnung im Kiez. Gestern sah er auf seiner Tour in der Nähe der Mariannenstraße ein Mädchen mit großem Rucksack stehen, (vielleicht – Hilfe brauchen)
Sie hatten sich auf der Arbeit kennengelernt und gingen nach der Weihnachtsfeier zu ihm nach Hause. Er hatte noch nie ein so vollbusiges Mädchen in seinem Bett gehabt, (bereit sein – zu schlafen – mit ihm)
Manfred ist ein schüchterner Mann, seit Jahren hatte er keine Partnerin mehr. Er sehnte sich nach Liebe und Zärtlichkeit. In einer Bar machte er sich an ein süßes Mädchen in engem Kleid heran, (aufreizend – tanzen)