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s (Bachmanns) Anna. Die Rolle der Herkunftsfamilie in Referenz und Namengebung in dörflichen Kommunikationsgemeinschaften
Theresa Schweden
Theresa Schweden
s (Bachmanns) Anna. Die Rolle der Herkunftsfamilie in Referenz und Namengebung in dörflichen Kommunikationsgemeinschaften
Linguistik online, vol. 107, núm. 2, pp. 41-59, 2021
Universität Bern
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Abstract: In rural speech communities, when speakers refer to persons, their family of origin is omnipresent, not only by passing on the name of the family patriarch, but also in the serialization of surname and first name and in the grammatical structures of reference forms (der Müller Peter, s Müllers Peter). This paper portrays the diachronic development of reference forms and elaborates on their preservation in synchronic reference systems. Furthermore, it explores a referent’s linguistic categorization into social groups and shows that different grammatical structures foreground certain distinctions, which can also overlap.

In rural villages, inofficial house names, derived from the patriarch’s first name or profession, are still in use. When an individual marries into another house, the reference to this person can change accordingly.

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Artikel/Articles

s (Bachmanns) Anna. Die Rolle der Herkunftsfamilie in Referenz und Namengebung in dörflichen Kommunikationsgemeinschaften

Theresa Schweden
Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Alemania
Linguistik online, vol. 107, núm. 2, pp. 41-59, 2021
Universität Bern
1 Einleitung

Sprachliche Äußerungen reihen sich neben performativen Handlungen, wie dem Etablieren eines Erscheinungsbilds oder bestimmter Verhaltensweisen, in die Prozesse ein, die soziale Realität herstellen: „Mittels Sprache kategorisieren wir die Welt, mittels Sprache (re)konstruieren wir unsere sozialen Beziehungen und mittels Sprache konstruieren, vermitteln und modifizieren wir soziale Handlungen, Konventionen und Relevanzsysteme“ (Günthner 2018: 30). Auch auf Personen so zu referieren, dass den RezipientInnen Identifikation ermöglicht wird, kann als ein Akt sozialer Kategorisierung betrachtet werden. So kann neben Eigennamen und Pronomen Referenz auch durch das Beschreiben von Personen mittels zusätzlicher Informationen erfolgreich hergestellt werden.

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Kodierung sozialer Differenzen in dörflichen Kommunikationsgemeinschaften. Diese sind durch eigene Referenzsysteme strukturiert, die Mitgliedschaften von Personen zu sozialen Kategorien sprachlich fixieren (cf. Hirschauer 2014: 171). Die Systeme beinhalten nicht nur inoffizielle onymische Referenzformen wie Hausnamen (HausN), sondern auch die zum Standarddeutschen inverse Serialisierung von Familienname (FamN) und Rufname (RufN). Der FamN oder ein inoffizieller, lediglich mündlich tradierter HausN steht in diesen Systemen vor dem RufN (der Schmidte Karl, (s) Schmidtjaabs Else; cf. hierzu einschlägige Beiträge von Bach 1952; Kunze 2004; Berchtold/Dammel 2014; Flores

Flores 2014; Krier 2014; Cornelissen 2014, 2016; Roolfs 2016; Schweden 2019). Wie auch Busley/Fritzinger (2018 und in diesem Band) für den Gebrauch neutraler Artikel und Pronomen bei der Referenz auf weibliche Personen beschreiben, ist die Verwendung dieser Referenzformen pragmatisch gesteuert. Dieser Beitrag zeigt, dass Abstammungsrelationen in dörflichen Kommunikationsgemeinschaften im Mittelpunkt der Personenreferenz stehen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Referenzsysteme um sprachliche Formen erweitert sind, deren Funktion der Ausdruck dieser Gruppenzugehörigkeit ist. Dörfliche Gemeinschaften sind nach sozialen Einheiten strukturiert, denen alle Referenzpersonen zugeordnet werden, die nicht im engsten Kreis der SprecherInnen verkehren. Die Namengebung erfolgt(e) bei diesen sozialen Einheiten über die Vaterlinie, weshalb auch Referenz über den väterlichen Namen der Herkunftsfamilie stattfindet.

In Kapitel 2 werden zuerst sozialhistorische Hintergründe dieser synchron konservierten Referenzsysteme näher beleuchtet. Kapitel 3 gibt einen Überblick über das grammatische Spektrum der FamN+RufN-Referenz und konzentriert sich dann v. a. auf Ortspunkte, in denen mehrere strukturelle Typen konkurrieren (3.1). Es wird evident, dass die Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie einer Person bis in verfestigte grammatische Strukturen vordringt, sich aber auch auf pragmatischer Ebene in verschiedenen Referenzsituationen zeigt (3.2). In diesem Zusammenhang wird ersichtlich, dass nicht nur die Wahl verschiedener struktureller Typen, sondern auch die Entscheidung für eine spezifische Form der Referenz soziale Kategorien kodiert. Kapitel 4 widmet sich der Fremdbenennung durch einen bestimmten, auf dörfliche Kontexte beschränkten inoffiziellen Namentyp: den sogenannten Hausnamen (HausN). Hier wird anhand einer Tiefenbohrung im rheinfränkischen Ort Worfelden gezeigt, dass Hausnamengebung über die Vaterlinie erfolgt.

2 Diachrone Entwicklung dörflicher Referenzformen

Bevor näher darauf eingegangen wird, wie sich Herkunft in der Personenreferenz synchron abzeichnet, erfolgt zunächst ein kurzer Überblick über den Ursprung der FamN+RufNKombination sowie über die Entstehung dörflicher HausN. In einer systematischen Analyse von Frankfurter Bürgerbüchern stellt Ramge (2017: 133) fest, dass vorangestellte FamN nach 1410 produktiv werden, und äußert auf dieser Basis die Vermutung, dass Neubürger, die meist aus ländlichen Regionen stammten, sich selbst in dieser Art benannten. Er vertritt die Auffassung, dass auch der Entstehungszeitpunkt dieser Referenzformen auf dem Land nicht wesentlich weiter zurückgeht als in Städten, da sie andernfalls bereits zuvor vereinzelt in städtischen Urkunden erscheinen müssten. Die untersuchten Referenzformen treten auch heute noch hauptsächlich in dialektaler Kommunikation und in dörflichen Kontexten auf, sodass ein Ursprung in vorindustriellen landwirtschaftlich geprägten und familienwirtschaftlich organisierten sozialen Lebensformen naheliegt.

Die Voranstellung des FamNs ist hier sozialhistorisch zu erklären: Die einschlägige Forschung spricht für die vorindustrielle, landwirtschaftlich organisierte dörfliche Bevölkerung mehrheitlich von der Sozialform Ganzes Haus (cf. Rosenbaum 1982; Nave-Herz 2013: 18). Diese zeichnete sich entgegen heutiger Kleinfamilien durch die Abwesenheit von Privatheit aus: Das Haus war in erster Linie eine Produktionsgemeinschaft und seine Mitglieder demnach Arbeitskräfte. Das Haus fungierte gleichzeitig als Arbeitsund Wohnbereich und war Mittelpunkt der jeweiligen Sozialgemeinschaft:

Das Haus als räumliches Substrat der Familiengemeinschaft spielt in der Sozialgeschichte der europäischen Familie eine außerordentlich wichtige Rolle. Dies kommt schon darin zum Ausdruck, dass in der Entwicklung der Familienterminologie Ableitungen von der Baulichkeit auf die darin lebende Personengruppe häufig begegnen. [...] Im Selbstund Fremdverständnis der Gruppe steht hier der lokale Bezugspunkt im Vordergrund.

(Mitterauer 2009: 23f.; cf. auch Mitterauer/Sieder 1991: 29f.)1

Die Namen der jeweiligen Häuser spielen eine signifikante Rolle: Bevor FamN sich auf dem Land im aktiven Gebrauch etablierten, fand Referenz über HausN statt. Bei der Referenz mit HausN+RufN ist also historisch von einer lokal-soziofunktionalen Referenz über das entsprechende Haus, in dem eine Referenzperson wirkte, auszugehen. ReferentInnen wurden dabei nicht, wie heute, einer Gruppe blutsverwandter Personen zugeordnet, denn das Haus umfasste neben genealogisch verwandten BewohnerInnen auch Mägde und Knechte. Außerdem wurden bei einer Referenz mit dem HausN neben einem Kollektiv kooperierender Personen zugleich deren Wohnund Arbeitsstätte mit aufgerufen: Ich geh in s Schmidts meint also sowohl den Ort als auch die Personen, die ihn bewohnen. HausN stellen noch heute Hybride zwischen Toponymen und Anthroponymen dar (cf. dazu ausführlicher Schweden eingereicht).

In jeder Generation eines solchen Hauses kam jeweils nur einer einzigen männlichen Person die Verwaltung über das Gut zu, dem männlichen Hausvorstand. Auch beim sogenannten Majorat (Erstgeborenenerbrecht) erbte im vorindustriellen Europa nicht pauschal jedes erstgeborene Kind den Hof, sondern vielerorts lediglich der erstgeborene Sohn (cf. Bourdieu 2008: 22; Bohler 2013: 38). Ein wichtiger Grund hierfür ist die Weiterführung des HausNs (cf. hierzu Bourdieu 2008: 22), die nur durch einen männlichen Erben gewährleistet ist. Diese Praktik veranschaulicht, wie eng ein Name, den andere Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft kennen und täglich nutzen, mit der Kontinuität der Vaterlinie und des Wohnsitzes verwoben ist:

Die Weiterführung des Namens und die Notwendigkeit eines männlichen Betriebsleiters […] geben die Gründe ab, auf die sich die Geltung patriarchaler Muster der Bauernfamilie wie die Patrilokalität stützte und die Regel handlungsleitend werden ließ, dass der Erbfolgegebrauch vom Prinzip der Geschlechtergleichheit abwich.

(Bohler 2013: 45)

Das Individuum nahm in vorindstriellen Agrargesellschaften eine untergeordnete Stellung gegenüber dem Fortbestand des Hauses ein: „Der einzelne ordnete sich in die starre, >>positionale<< Struktur des Dorfes, der Hausgemeinschaft, der Eltern-Kinder-Gruppe ein. [...] Individuelle Motive waren weitgehend irrelevant“ (Sieder 1987: 42f.). Als Folge daraus hatte auch die Heirat der Nachkommen eines Hauses eine rein wirtschaftliche Funktion: Sie schuf Produktionsfläche und Arbeitskräfte. Bourdieu (2008: 19) merkt zur Eheschließung im südwestfranzösischen Béarn an:

Sie war mehr die Angelegenheit der gesamten Gruppe als des Individuums, weil sie auf die ganze Zukunft des bäuerlichen Familienbetriebs Auswirkungen hatte, weil sie Anlass für eine ökonomische Transaktion von größter Bedeutung war, weil sie dazu beitrug, die gesellschaftliche Rangordnung und die Stellung der Familie innerhalb dieser Hierarchie zu bestätigen. Es war die Familie, die heiratete, und man vermählte sich mit einer Familie.

Während jeweils ein männlicher Nachkomme den eigentlichen Hof erbte, wurden die anderen Söhne sowie alle weiblichen Nachkommen (je nach Erbrecht – Anerbenrecht oder Realteilung) strategisch verheiratet, um den Besitz zu vergrößern und geographisch sinnvoll zu erweitern (cf. Bohler 2013: 39). Nicht zuletzt konnten weibliche Nachkommen auch „dumm gemacht“ werden, d. h. sie waren von Anfang an eigens für die Pflege des Altbauernpaares, nicht aber für die Heirat bestimmt (cf. Bohler 2013: 45).

Eine Referenz auf Einzelpersonen mit Bezug auf das entsprechende Haus, das konzeptuell immer mit vorhanden ist, war also aufgrund der Bedeutung der Hausverbände naheliegend. Heute finden sich in einzelnen dörflichen Haushalten in der Regel keine nicht blutsverwandten Bewohner mehr: Die lokal-soziofunktionale Referenz mit HausN/FamN+RufN ist also synchron zu einer genealogischen Referenz über die Kernund erweiterte Familie geworden. Im Folgenden wird ausgeführt, wie und in welchen Kontexten diese hergestellt wird und inwiefern sie auch in Fremdbenennungspraktiken reflektiert ist.

3 Personenreferenz in dörflichen Kommunikationsgemeinschaften
3.1 Pragmatisch motivierte Grammatik im Ortsvergleich

Strukturelle Variation besteht bei der Serialisierung HausN/FamN+RufN in den ehemaligen Genitivsuffixen, die als Fugenelemente zwischen FamN (oder HausN) und RufN erhalten sein können (cf. Berchtold/Dammel 2014; Schweden 2019), sowie beim Artikel. Sowohl Fuge als auch Artikel können, sofern vorhanden, in verschiedenen formalen Typen erscheinen. Im Falle der Fugen gehen diese Ausprägungen auf ehemalige starke (-s.-sch), schwache (-e(n)) oder kombinierte (-(e)n-s) Genitivsuffixe zurück. Der Determinierer kann in einer flektierbaren Variante (de(r)/de(m)/de(n) Müller(s) Peter) erscheinen. Diese Variante kommt im gesamten südund mitteldeutschen Raum vor. Varianten ohne Determinierer finden sich im Niederdeutschen, im Ripuarischen und Moselfränkischen. Ein erstarrter Genitivartikel, der unabhängig vom Kasus der Nominalphrase auftritt (Ich habe (de)s Müllers Anna gesehen..(De)s Müllers Anna war einkaufen.) erscheint im westoberund westmitteldeutschen Raum. Auf letzterer Form soll im Folgenden der Fokus liegen.

Abbildung 1 zeigt Datenpunkte aus einer indirekten Erhebung des DFG-Projekts „s Bachmanns Anna und de Schmidte Karl: Grammatik und Soziopragmatik inoffizieller Personennamen in Dialekten des Deutschen“, in der DialektsprecherInnen in ganz Deutschland angehalten waren, Namen in fiktiven Referenzsituationen so in ihren Heimatdialekt zu übertragen, als handele es sich um Personen aus ihrem näheren Umfeld. Rote Kreise auf der Karte stellen Ortspunkte dar, in denen der .-Artikel vor FamN verwendet wurde. Bei diesem Gebiet handelt es sich um ein Teilareal des Gebietes, in dem Referenzformen mit flektierbarem Artikel (blaue Punkte auf der Karte: de(r)/de(m)/de(n) Müller(s) Peter) auftreten. So existieren in den Basisdialekten einzelner Ortspunkte beide Artikeltypen nebeneinander und weisen divergierende Verwendungskontexte auf; sie sind also soziopragmatisch gesteuert.


Abbildung 1
Verteilung von genitivischem und nicht-genitivischem Artikel sowie artikellosen Formen in einer Online-Befragung (n = 501) (Kartenerstellung mit QGIS und NaturalEarth)

Die verschiedenen grammatischen Ausprägungen der FamN+RufN-Serialisierung kodieren (in unterschiedlichem Ausmaß) Zugehörigkeiten der Referenzpersonen zu verschiedenen sozialen Kategorien. Sie zählen zu den sprachlichen Formen, die Individuen Mitgliedschaften zuweisen, so zum Beispiel die prominenten Leitdifferenzen Alter und Geschlecht, aber auch Abstammung (cf. Hirschauer 2014: 170). Humandifferenzen sind in erster Linie „Eigenschaften der Sozialorganisation“ (Hirschauer/Boll 2017: 9), d. h. sie gruppieren die soziale Realität und können deswegen in verschiedenen sozialen Gruppen verschieden stark gewichtet sein. Je nach Kontext treten bestimmte Zuweisungen und Zugehörigkeiten von Personen in den Fokus: „While sex category, race category and class category are potentially omnirelevant to social life, individuals inhabit many different identities, and these may be stressed or muted, depending on the situation“ (West/Fenstermaker 1995: 30). Bei der Zuweisung sozialer Mitgliedschaften, wie auch bei deren Fremdzuweisung durch Personenreferenz, liegen immer Mehrfachzugehörigkeiten vor, d. h. das Individuum wird nie lediglich einer sozialen Einheit zugeordnet (cf. Hirschauer/Boll 2017: 9). Entscheidend ist, welche Ausprägung für die Referenz als wichtig erachtet und mit der entsprechenden sprachlichen Form stärker evoziert wird.

Dass jeder Ort ein spezifisches Referenzsystem mit eigenen soziopragmatischen Regeln entwickeln kann, zeigt der Vergleich der bisher spärlich untersuchten Referenzsysteme verschiedener Ortspunkte aus dem in Abbildung 1 umrissenen Überschneidungsgebiet. So beschreibt bereits Bertsch (1905) für Möhringen (Stuttgart), dass die Referenzform s Simm-e Max für Kinder aus der entsprechenden Familie verwendet wird, der Simm-e Max hingegen auf erwachsene Referenzpersonen verweist:

Wenn der Mann, den man stets nur dә Simmә hieß, einen Sohn bekommt namens Max, so wird man ihn ganz begreiflicherund natürlicherweise allgemein nicht bloß dә Max, sondern s’ Simmә Max […] nennen. […] Es entwickelt sich mit der Zeit s’ Simmә Max zu dә Simmә Max, und zwar wol so, dass das Genitiv-s als sächlicher Artikel aufgefasst wird, da man ja oft sagte: s’ Mäxle bzw. s’ Simmә Bieble oder -Mäxle. Als dann der Bube ein Max geworden war, musste man ihn dә Max, und konnte ihn deshalb leicht dә Simmә Max nennen.

(Bertsch 1905: 26–27)

Die Form s Simme Max kodiert also die Zuweisungen Alter ([-ERWACHSEN]) und Abstammung („Als dann der Bube ein Max geworden war“, konnte auf ihn nicht mehr mit der Form s Simme Max referiert werden), die Form de Simme Max lediglich Alter ([+ERWACHSEN]).

Für den rheinfränkischen Ort Höringen lässt sich in einem Apparent-Time-Ansatz eine Veränderung der Pragmatik der beiden formalen Typen ausmachen. In einer direkten Erhebung mit 12 Gewährspersonen aus drei nach Alter unterschiedenen Serien wurden hier den Gewährspersonen Übersetzungsaufgaben und Akzeptabilitätsaufgaben gestellt sowie in einem anschließenden Interview die Reflexion über Verwendungskontexte angeregt. Dabei zeigte sich bei den Gewährspersonen ab 70 Jahren (der Serie mit den ältesten SprecherInnen) für den Erhebungsort ein vergleichbares pragmatisches System zu Möhringen, mit dem Unterschied, dass hier Referenzformen mit .-Artikel nicht auf kindliche Referenzpersonen beschränkt sind, sondern in erster Linie der Fokus auf die Zuordnung der Referenzperson zu einer ortsansässigen Familie liegt. Der strukturelle Typ mit flektierbarem Artikel hingegen kann auch in Höringen nicht für Referenz auf Kinder verwendet werden. So werden für alle erwachsenen ortsansässigen ReferentInnen sowohl die Formen s Kaufmanns Dieter.s Kaufmanns Ingrid als auch der Kaufmann Dieter.die Kaufmann Ingrid verwendet. Die Form mit .-Artikel kodiert explizit Abstammung, wie Gesprächstranskript 1 zeigt:

Gesprächstranskript 1 Fokusgruppe Höringen2 17:34–7:55

Gm57 (m, 57 Jahre); Gm62 (m, 62 Jahre); Gw55 (w, 55 Jahre)

Lediglich die Form mit flektierbarem Artikel kodiert demnach zusätzlich auch Alter ([+ERWACHSEN]). Weitere soziopragmatische Faktoren für denselben Ortspunkt sind in einer schriftlichen Antwort aus der indirekten Befragung des Projekts aufgeführt:

es Müllers Peter verwende ich, wenn ich auch die Familie, d. h. auch Peters Eltern noch kenne. es Müllers Anna stammt für mich aus einer Familie namens Müller oder auch aus einer Familie, die eine Mühle betrieben hat, die Müller Anna hingegen heißt unbedingt mit Nachnamen Müller und kann den Namen auch durch Heirat erworben haben.

(Höringen, w, 1960)3

Die Gewährsperson betont, dass obwohl auf weibliche Referentinnen zeitlebens mit Geburtsnamen referiert werden kann, der flektierbare Artikel auf den aktuellen FamN beschränkt ist. Die beiden Serien, die insgesamt die Altersstufen 20 bis 60 Jahre abdecken, bilden eine Veränderung der pragmatischen Steuerungsfaktoren ab: Neben der Kodierung von Abstammung wird die Referenzform mit .-Artikel von der jüngeren InformantInnengruppe um die Information Geschlecht erweitert. Während diese Referenzform weiterhin für Kinder beider Geschlechter verwendet werden kann, ist sie bei erwachsenen Referenzpersonen auf Frauen beschränkt. Die Akzeptabilität des .-Artikels für männliche Erwachsene erwies sich in entsprechenden Tests, die mit den InformantInnen durchgeführt wurden, als gering.

Eine zweite Erhebung am selben Ortspunkt kann diese Beobachtungen durch authentische Sprachdaten quantifizieren: Erhoben wurden 234 FamN+RufN-Kombinationen (Tokens) in zwei Tischgesprächen und einem Gruppeninterview (Fokusgruppe) von insgesamt 8 Gewährspersonen im Alter von 47 bis 90 Jahren. Bezüglich der Kodierung von Geschlecht liefert Abbildung 2 aussagekräftige Ergebnisse. Sie enthält alle Referenzen und metasprachlichen Erwähnungen von ortsansässigen Referenzpersonen. Ausgeschlossen sind Belege, die im Rahmen der Fokusgruppe durch explizite Reflexion der verschiedenen formalen Typen geäußert wurden. Auch Dopplungen von Namen, die die Gefahr eines Primings durch vorhergehende Äußerungen anderer Gewährspersonen enthalten, wurden aussortiert. Es zeigt sich, dass der .-Artikel weiblichen ReferentInnen vorbehalten ist und dass diese Tendenz auch bei SprecherInnen über 47 Jahren bereits vorhanden ist, sich aber in der jüngsten befragten Gruppe aus Erhebung 1 weiter verstärkt.


Abbildung 2
Geschlecht der Referenzpersonen nach Artikeltyp bei Referenzen und metasprachlichen Äußerungen mit der Serialisierung FamN/HausN+RufN aus Tischgesprächen und Fokusgruppendiskussionen in Höringen (n = 203)

Im Gruppeninterview aus Erhebung 1 wird der Verwendungskontext der Variante mit Genitivartikel weiter spezifiziert: Von den Gewährspersonen im Alter von 70 Jahren und älter werden Referenzformen mit genitivischem Artikel für ortsansässige Personen, insbesondere für Kinder und Jugendliche verwendet, außerdem für Personen, bei denen eine Verbindung zur Abstammungsfamilie ausgedrückt werden soll – und hier nur für solche, die relational jünger zu dieser sind. Bei den beiden jüngeren Serien hat sich der pragmatische Skopus verengt, denn von dieser Altersgruppe wird der .-Artikel insbesondere für junge, von der Herkunftsfamilie abhängige Referentinnen gebraucht. Dies impliziert auch, dass sie unverheiratet sind; bei verheirateten weiblichen Personen ist Referenz mit genitivischem Artikel weiterhin in Verbindung mit deren Geburtsnamen möglich.

Tabelle 1
Semantische Konzepte der verschiedenen onymischen Personenreferenzformen in Höringen im Wandel

Durch die Spezifizierung der Referenzform mit .-Artikel mittels der Information Geschlecht in der jüngsten Serie entsteht eine formale und konzeptuelle Zusammengehörigkeit weiblicher und kindlicher Referenzpersonen. Für beide steht Abstammung im Mittelpunkt, während für männliche Referenten diese Kodierung zunehmend irrelevant wird, vielleicht weil sie selbst im Erwachsenenalter die Funktion des Hausvorstands übernehmen. Diese sinkende Relevanz zeigt sich auf sprachlicher Ebene, indem hauptsächlich die Form mit nicht-genitivischem Artikel gebraucht und die Form mit Genitivartikel als unangemessen empfunden wird.

Es kann festgehalten werden, dass durch die grammatische Struktur der Referenzsysteme mit präponiertem FamN wichtige Informationen ausgedrückt werden können, die zur Disambiguierung der Referenzperson beitragen, und dass dies innerhalb dörflicher Kommunikationsgemeinschaften vor allem die Herkunftsfamilie ist. Durch den .-Artikel wird, stärker noch als durch die generelle Voranstellung des FamNs, der Fokus auf die Zuordnung zu einer familialen Einheit gelegt, in der das Individuum nur eine untergeordnete Rolle spielt. Wichtig ist vielmehr dessen Positionierung in einem Kollektiv (Kollektivierung), sowohl im übetragenen Sinne als auch im eigentlichen physikalischen Raum des Dorfes, wie Gesprächstranskript 2 anschaulich macht.

Gesprächstranskript 2: Tischgespräch Höringen 3:41–4:03

Gm79 (m, 79 Jahre); Gw90 (w, 90 Jahre); Gw78 (w, 78 Jahre)

Der Geburtsname selbst wird deshalb auch für verheiratete weibliche Referenten weiterhin verwendet. Sie legen also zeitlebens ihren Status als Mitglied der sozialen Einheit ihrer Herkunftsfamilie nicht ab, deren Namengeber der Patriarch als Hausvorstand ist.

Das Transkript deutet zudem auf einen möglichen Auslöser für die Bedeutungsverengung des genitivischen Artikels als Anzeiger für weibliche Referenten hin: Er ist formgleich zum neutralen Determinierer und Pronomen – hier neben dem genitivischen Artikel in Kombination mit FamN+RufN für die diskutierte Referentin verwendet. Wie Busley/Fritzinger (2018) zeigen, gelten für weibliche Personen, auf die mit Artikel oder Pronomen im Neutrum referiert wird, ähnliche Konzeptualisierungen: Die Referentinnen sind ortsansässig, auf sie wird im Dialekt bzw. Platt referiert, sie sind mit familiären Kontexten verknüpft und konzeptuell gleichaltrig oder jünger zur ihrer Herkunftsfamilie. Durch die Referenzform wird Nähe bzw. Vertrautheit und Abhängigkeit von dieser Familie evoziert. Neutrale Artikel und Pronomen werden, wie auch der .-Artikel bei Gesamtnamen, nicht für männliche Referenten verwendet. Die formale und konzeptuelle Überschneidung von Pronomen und Genitivartikel fördert also den Funktionswandel der ehemaligen Genitivphrase zur grammatischen Fixierung von Geschlecht.

Im Falle der Referenz auf weibliche Personen kann demnach von einer differenzverstärkenden Kreuzung gesprochen werden, d. h. die Humandifferenzen Geschlecht, Abstammung und Alter spielen bei der Konzeptualisierung von Referenzpersonen zusammen und laden sich über die jeweils anderen Differenzen auf. Eine Differenz besteht also auch aus der jeweils anderen (cf. Hirschauer/Boll 2017: 14). Das Konzept der von der Herkunftsfamilie abhängigen, jungen weiblichen Person entsteht und fordert eine eigene grammatische Kodierung in der Referenz.


Abbildung 3
Geschlecht fiktiver Referenzpersonen nach Artikeltyp in 150 Antwortsätzen aus einer Online-Befragung mit Gewährspersonen verschiedener Dialekte (n = 318)

Koexistierende grammatische Typen unterliegen soziopragmatischen Steuerungen. Jedoch ist die Kodierung von Geschlecht in der Grammatik von Referenzformen mit vorangestelltem FamN kein allgemeiner sprachlicher Trend, sondern tritt nur in einzelnen, in sich geschlossenen Referenzsystemen in Erscheinung, wie Ergebnisse der indirekten Erhebung in Abbildung 3 zeigen. Berücksichtigt wurden hier nur die Ortspunkte, in denen mehr als ein grammatischer Typ pro Ortspunkt für die Personenreferenz verwendet wurde. Es zeigen sich keine Unterschiede, was das Verhältnis der verschiedenen Artikeltypen für männliche und weibliche Referenzpersonen betrifft: Generell wird der erstarrte Genitivartikel nur etwa halb so oft verwendet, artikellose Formen treten in Überschneidungsgebieten fast nicht auf, sondern dominieren in Arealen, in denen sie ein Monopol bilden. Dies deutet darauf hin, dass sich Strategien der pragmatischen Auseinanderentwicklung von Referenzformen punktuell herausbilden und deren Regeln nur den Mitgliedern der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft bekannt sind.

3.2 Herkunft vor Ehe: Referenz durch Geburtsname

Wie Kapitel 3.1 gezeigt hat, kann durch eine soziopragmatische Steuerung koexistierender grammatischer Strukturen effizient Referenz hergestellt werden. Diese Referenz muss nicht individualisierend sein, im Gegenteil genügt es in dörflichen Gemeinschaften meist, zu wissen, welchem Kollektiv eine Referenzperson zuzuordnen ist. Selbst wenn den AdressatInnen der RufN der individuellen Referenzperson nicht bekannt ist, können sie durch ihr Weltwissen die nötigen Informationen beziehen, die sie brauchen, um sich die Abstammungsverhältnisse zu erschließen.

Auch an Ortspunkten, in denen lediglich ein grammatischer Typ vorhanden ist, kann sich Zuweisung zur Herkunftsfamilie in der Personenreferenz mit dem Muster HausN/FamN+RufN manifestieren. In den meisten niederdeutschen Erhebungsorten finden sich lediglich artikellose Strukturen mit s-, (e)noder (e)n-s-Fuge (Schmett-s Anna, Schmett-en(-s) Hein). Obwohl die SprecherInnen hier keine Wahl zwischen Strukturen treffen können, die Abstammung mehr oder minder stark grammatisch verankern, können sie diese dennoch im Gesprächskontext in den Fokus rücken, indem sie als Referenzausdruck für weibliche Referentinnen nicht deren amtlichen FamN, sondern den Geburtsnamen wählen, wie Gesprächstranskripte 3 und 4 aus dem ostfälischen Ort Wendeburg und Gesprächstranskript 5 aus dem ripuarischen MeerbuschOsterath exemplarisch darstellen. Vergleichbare Aussagen finden sich in allen Erhebungsorten des Projekts im Rheinund Moselfränkischen, im Mittelalemannischen, Nordniederdeutschen und Westfälischen; die einzige Ausnahme stellt das Bairische dar, wo lediglich Referenzformen vom Typ der Meier Peter ohne Fugenelement existieren. Bei diesen wird – wie in Kapitel 3.1 für Höringen gezeigt wurde – Abstammung nicht kodiert und sie können lediglich mit dem aktuellen FamN, nicht mit Geburtsnamen, einhergehen.

Gesprächstranskript 3: Fokusgruppe Wendeburg 2:15–3:20

Gm74 (m, 74 Jahre); Gw74 (w, 74 Jahre); Gw70 (w, 70 Jahre)

Gesprächstranskript 4: Fokusgruppe Wendeburg 4:38–4:56

Gw74 (w, 74 Jahre); Gw70 (w, 70 Jahre); Gm69 (m, 69 Jahre)

Gesprächstranskript 5: Fokusgruppe Osterath 41:54–42:07

Gw73 (w, 73 Jahre); Gm75 (m, 75 Jahre), Gw65 (w, 65 Jahre)

Auch in diesen Kommunikationsgemeinschaften scheint es wichtiger zu sein, Identifikation durch den Rezipienten über die Herkunftsfamilie auszudrücken als über den Ehepartner, da dieser unter Umständen gar nicht bekannt ist (wie in Transkript 3 und 5 der Fall) und/oder keiner ortsansässigen Familie zugehörig ist. Umgekehrt muss eine Person, die in die Ortsgemeinschaft einheiratet und deren Herkunftsfamilie nicht bekannt ist, einer bekannten Einheit zugeordnet werden, wie Transkript 6 aus dem moselfränkischen Oberstein deutlich macht:

Gesprächstranskript 6: Fokusgruppe Oberstein-Neuweg 19:28–20:02

Gm81 (m, 81 Jahre); Gm52 (m, 52 Jahre); ; Gw71 (w, 71 Jahre); Gw66 (w, 66 Jahre)

Die in 3.1 und 3.2 analysierten Transkripte lassen insgesamt erkennen, dass auch heute die dörfliche Kommunikationsgemeinschaft von ihren Mitgliedern noch als Verband sozialer Einheiten konzeptualisiert wird, die sich um einen namengebenden Hausvorstand gruppieren („in welches Eck du sie reinstellen musst“). Das Individuum wird innerhalb des Ortes und innerhalb einer familialen Einheit konzeptuell und geographisch (durch geteiltes Wissen der Kommunizierenden über den Wohnort bzw. durch Nennung eines HausNs, siehe Kapitel 4) verortet. Dies geschieht bei weiblichen Referenten über den Geburtsnamen. Das Kodieren von Abstammung in der Referenzform spielt also eine größere Rolle als die Berücksichtigung einer Heirat und eines damit verbundenen Namenwechsels bzw. macht die Referenz sogar erst möglich. Umgekehrt findet durch Referenz mit einem FamN, der den Rezipierenden unbekannt ist, keine Idenfikation statt. In einem solchen Fall ist es nötig, weitere Referenzausdrücke, wie den Geburtsoder HausN, zu ergänzen, um eine Reparatur vorzunehmen.

Auch in historischen Dokumenten wurde z. B. im Kontext von Erbschaft stets der Geburtsname als Marker für Blutsverwandtschaft gewählt. So heißt es in einer Erbschaftsregelung der „Peter Schmidt Wittwe zu Gräfenhausen“ vom 31. Mai 1845 (Rheinfränkisch): „Nr. 2 [= der zweite Teil, der zuvor bereits aufgelistet wurde, T. S.] verbleibt durch loosen dem Jacob Schmidt ledig. […] Nr. 3 verbleibt durch loosen der Magdalene Schmidt Ehefrau des Johannes Neumann.“ Obwohl die Referentin offensichtlich mit Johannes Neumann verheiratet war und bereits nach dem Allgemeinen Preußischen Landrecht 1794 (ALR § 192) die Übernahme des amtlichen FamNs des Ehegatten durch die Frau vorgeschrieben ist, wird auf sie explizit mit ihrem Geburtsnamen referiert und damit ihre Erbberechtigung durch die Abstammung aus der entsprechenden Familie betont.

4 Onymik: Dörfliche Hausnamen zwischen Namengebung und Referenz

Nicht nur bei der Personenreferenz zeichnen sich dörfliche Kommunikationsgemeinschaften durch eine Ausrichtung an der Herkunftsfamilie aus, auch die Namengebung selbst unterliegt diesen Strukturen. Während der RufN kontinuierlich unverändert bleibt, kann sich in verschiedenen Stadien des Lebens von Personen ändern, wie auf sie referiert wird. Bei einer Heirat gibt es divergierende Szenarien für die Wahl einer Referenzform für eine neu entstandene Ehe bzw. Kernfamilie sowie für die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt. Diese Optionen sind oft eng daran geknüpft, welche Wohnsituation für diese neue Kernfamilie gewählt wird: patrilokal (im Stammhaus des Ehemannes), matrilokal (im Stammhaus der Ehefrau) oder neolokal (in einem neu gebauten Haus, losgelöst von den ursprünglichen Stammhäusern). Es findet kein Namengebungsakt im klassischen Sinne statt, stattdessen entstehen Hausnamen im Gebrauch und etablieren sich durch häufige Referenzen, d. h. Fremdbenennungen, indem ein Name (z. B. der HausN der Herkunftsfamilie des Ehemannes oder der Ehefrau) entweder verwendet oder nicht verwendet und somit anerkannt oder verweigert wird. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, ob sich einheitliche Praktiken bezüglich dessen erkennen lassen, welche/r der EhepartnerInnen namengebend ist. Dies wird im Folgenden am rheinfränkischen Fallbeispiel Worfelden (bei Groß-Gerau) unternommen, wo die Vergabe von HausN nach der Heirat gut dokumentiert ist.

Bei HausN handelt es sich um inoffizielle, mündliche Referenzformen, die Hybride zwischen Toponymen und Anthroponymen darstellen, da sie diachron für ganze Gehöfte verwendet, aber auch zur Identifikation einzelner zugehöriger Individuen vor deren RufN genannt wurden (cf. Schweden eingereicht). Ähnlich offizieller FamN entwickelten sich auch HausN größtenteils aus RufN ehemaliger Hausvorstände (s Jaabs) oder aus deren Berufen (s Schmidte). Namengebend ist also, wie bei den offiziellen FamN, die männliche Linie, also der Hausvorstand. HausN werden meist über viele Generationen und in manchen Orten sogar nicht-genealogisch über wechselnde Hausbesitzer weitergegeben. Für den Untersuchungsort Worfelden lassen sich vier verschiedene Typen des Namenwechsels bei HausN ausmachen, wobei die ersten beiden die Regel, die letzten beiden Ausnahmeregelungen darstellen:

Tabelle 2
Entstehungstypen für Fremdbenennung bzw. Referenz in Worfelden

Aus einer aktuellen Sammlung von 179 HausN in Worfelden auf dem Stand, den SprecherInnen im Alter von über 50 Jahren aktuell nutzen, geht hervor, dass 155 Namen nach männlichen Hausvorständen (sowohl bei Patrilokalität als auch bei Matrilokalität) vergeben wurden, nur 24 nach Ehefrauen. Es liegt in Worfelden ein System vor, bei dem Namen bzw. Referenzformen für bestimmte Lebensabschnitte von der Zugehörigkeit zu einem Haus bestimmt werden. Auffällig ist hierbei, dass das Abstammungshaus des Ehemannes im ehemaligen Elternhaus der Ehefrau weitergeführt werden kann, der umgekehrte Fall jedoch nicht eintritt.

Interessant sind in diesem Zusammenhang diejenigen Fälle, die von der Regel abweichen, sowie die Gründe für diese Abweichungen. Diese lassen sich zum heutigen Zeitpunkt schwer rekonstruieren, hier kommen beispielsweise der Bekanntheitsgrad des Individuums oder Zuzug eines Ehepartners aus einem Nachbardorf in Frage, dessen Haus wenig Bekanntheitsstatus innerhalb der Kommunikationsgemeinschaft hat. Ausschlaggebend dürften auch der Besitz, der mit in die Ehe gebracht wird, sowie der Einfluss des jeweiligen Hauses gewesen sein. So stellt Bohler (2013: 46) fest:

Die Geltung des patriarchalen Musters wurde dann gestört, wenn die Frau von einem größeren Hof kam oder ihre Mitgift notwendig war, den Bestand des Betriebs zu sichern und erst recht, wenn sich ein nachgeborener Sohn mit einer (mangels Brüdern) erbenden Ältesten verband und auf einen fremden Hof einheiratete.

Nicht zuletzt ist zu bemerken, dass der untersuchte Ortspunkt in einem Realteilungsgebiet liegt (cf. das Erbschaftsdokument in 3.2). Bei Realteilung wird von weniger streng patriarchalen Systemen ausgegangen (cf. Bohler 2013: 45). Gesprächstranskript 7 zeigt einen ungewöhnlichen Fall, in dem ein einheiratender Ehemann namengebend war, obwohl er aus einem Nachbarort zugezogen war.

Gesprächstranskript 7: Interview Worfelden 03:54–05:00

E (Exploratorin); Gm51 (m, 51 Jahre)

Hier fällt auf, dass sogar die Eltern der Ehegattin den neuen Namen des Hauses erhalten. Der Name des einheiratenden neuen Hausvaters wird konsequent durchgesetzt und es entstehen Lebensabschnittsnamen für alle im Haus Ansässigen.

Gesprächstranskript 8: Interview Worfelden 49:32–49:53

E (Exploratorin); Gm51 (m, 51 Jahre)

Gesprächstranskript 8 beschreibt einen weiteren Ausnahmefall, in dem ein einheiratender männlicher Referent den HausN seiner Ehegattin erhält, also von einem bestehenden Haus auch onymisch absorbiert wird. Betont wird, dass sich der eigentliche Hausname nicht ändern kann, was sich hingegen ändert ist die Zuordnung der Referenzpersonen zu einem Haus. Diese Zugehörigkeit wird im Laufe des Lebens jeder Referenzperson neu ausgehandelt und muss in der Referenz mitkodiert werden. Auch hier tritt das Individuum sprachlich hinter das jeweilige Kollektiv zurück.

5 Fazit

Der vorliegende Beitrag hat veranschaulicht, wie fest soziale Kategorisierungen, allen voran die Zuweisung zu einer ortsansässigen Herkunftsfamilie, in grammatischen Strukturen, in pragmatisch gesteuerten Personenreferenzformen und zuletzt in Namengebungspraktiken verankert sind.

In den erstarrten grammatischen Formen vom Typ s Müllers Anna, aber auch in der Voranstellung des FamNs generell lässt sich eine Ikonizität aufzeigen, die die historisch untergeordnete Stellung des Individuums gegenüber dem gesamten Haus bzw. Kollektiv abbildet. Damit auf Seite der Rezipierenden eine Identifikation stattfinden kann, wird das Individuum bei der Personenreferenz auch aktuell noch der Herkunftsfamilie untergeordnet, da eine individuelle Person am besten über das jeweilige Kollektiv disambiguiert werden kann. Dies gilt v. a. dann, wenn Personen mit identischem RufN in der Kommunikationsgemeinschaft koexistieren.

Außerdem hat sich gezeigt, dass in den jeweiligen Referenzformen (Leit-)Differenzen wie Herkunft, Geschlecht und Alter kodiert werden können, die bereits viele Informationen über die jeweiligen Referenzpersonen preisgeben und deren Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen ausdrücken. So liegt im alemannischen Möhringen der Fokus auf der Kodierung von Alter und Abstammung und damit der Zuweisung zu einer Altersgruppe und zu einer Herkunftsfamilie. Im rheinfränkischen Höringen zeichnet sich dagegen eine neuere Entwicklung ab, die Geschlecht als neuen Code einführt. Obwohl nicht durch unterschiedliche grammatische Typen unterschieden, ist auch in den Orten Osterath (Ripuarisch), Oberstein (Moselfränkisch) und Wendeburg (Ostfälisch) die Kodierung von Abstammung enorm wichtig – wichtiger als die der Zusammengehörigkeit der aktuellen Eheverbindung oder Fortpflanzungsfamilie. Im rheinfränkischen Worfelden (wie auch in vielen anderen Orten) wird Herkunft nicht nur durch den amtlichen FamN, sondern auch durch die Referenz mit HausN ausgedrückt. Diese Referenz kann sich bei Eheschließlung ändern, meist mit dem Zweck, das Haus des männlichen Ehepartners als Integrität und mentales wie sprachliches Konzept weiterzuführen: Das sprachliche Label hierfür war und ist bis heute der Name des männlichen Hausvorstandes.

Material suplementario
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Notas
Notes
1 Für weitere Forschungsansätze zu dörflichen HausN auch Debus 2014; Ramge 2017; Kersting 2017; Schweden eingereicht.
2 In diesen und den folgenden Transkripten und gezeigten Daten wurden alle Klarnamen anonymisiert.
3 Es handelt sich hier um eine Antwort desselben Ortspunkts aus der indirekten Erhebung. Obwohl die Sprecherin jünger als 66 ist, beschreibt sie das System, das bei der direkten Erhebung von den über 66-Jährigen verwendet wird.

Abbildung 1
Verteilung von genitivischem und nicht-genitivischem Artikel sowie artikellosen Formen in einer Online-Befragung (n = 501) (Kartenerstellung mit QGIS und NaturalEarth)

Abbildung 2
Geschlecht der Referenzpersonen nach Artikeltyp bei Referenzen und metasprachlichen Äußerungen mit der Serialisierung FamN/HausN+RufN aus Tischgesprächen und Fokusgruppendiskussionen in Höringen (n = 203)
Tabelle 1
Semantische Konzepte der verschiedenen onymischen Personenreferenzformen in Höringen im Wandel


Abbildung 3
Geschlecht fiktiver Referenzpersonen nach Artikeltyp in 150 Antwortsätzen aus einer Online-Befragung mit Gewährspersonen verschiedener Dialekte (n = 318)
Tabelle 2
Entstehungstypen für Fremdbenennung bzw. Referenz in Worfelden

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