Artikel/Articles
DOI: https://doi.org/10.13092/lo.107.7692
Abstract:
Data of the dialect research project “Das Anna und ihr Hund. Weibliche Rufnamen im Neutrum” indicate the important role of diminutive names in terms of the historical development and consolidation of the onymic neuter gender assignment. The focus in the present article lies therefore on the forms and the use of diminutive names (e.g. Anneli, Ruedi) in SwissGerman dialects.
Based on diachronic evidence from literary works and regional dictionaries, differences in the diminution of male and female names are historically traced and substantiated. It is for pragmatic reasons that female kinship names (e.g. Mami) are crystallized to be the last bastion for the neutral gender assignment which opens up new perspectives on the diachronic emergence of this phenomenon. The consideration of further onymic suffixes in the outlook brings up a debate on the disagreement of gender and sex which is considered to be a possible objective of the suffixation itself.
1 Einleitung
„In Liebe und grosser Dankbarkeit nehmen wir Abschied von meiner lieben Trudy, unserem lieben Mami und Grosi, meiner Schwester, einem wundervollen Mensch [sic!] N. N.“ (Todesanzeigenportal Schweiz 2019). In dieser Todesanzeige aus der Innerschweiz zeigt sich beispielhaft, dass in der Deutschschweiz nicht nur weibliche Rufnamen (cf. dazu Christen 1998; Baumgartner/Christen 2017), sondern auch weibliche Verwandtschaftsnamen (Mami, Grosi) neutrales Genus auslösen können (zu den Verhältnissen in Deutschland und Luxemburg cf. Nübling et al. 2013; Busley/Fritzinger in diesem Band). Die Verwandtschaftsnamen scheinen im Unterschied zu den Rufnamen einer neutralen Genuszuweisung gar noch förderlicher zu sein. In den nachfolgenden Ausführungen zu den Verhältnissen in der Deutschschweiz stützen die neutralen Verwandtschaftsnamen Annahmen zur diachronen Herausbildung der sexusdiskordanten Genuszuweisung, die dem sonst für Personenbezeichnungen gültigen Genus Sexus-Prinzip (nachfolgend: GSP)1 zuwiderläuft. Dabei wird sich neben den morphologischen Voraussetzungen insbesondere die semantisch-pragmatische Dimension als entscheidender Faktor nicht nur bei der synchronen Handhabung von variablem Rufund Verwandtschaftsnamen-Genus erweisen, sondern auch bei der mutmasslichen Entstehung des Phänomens herausstellen.2
Für die neutrale Genuszuweisung bei – vornehmlich weiblichen – Rufnamen werden drei Entstehungshypothesen in Erwägung gezogen. Als erste Hypothese, der ‚Appellativ-Hypothese‘, wird davon ausgegangen, dass die (früher) frequenten neutralen Lexeme Weib und Mädchen den Weg für neutrale Genuszuweisung bei weiteren Substantiven, die sich auf Frauen beziehen, gebahnt haben (cf. Köpcke/Zubin 2003). Die ‚Genitiv-Hypothese‘ dagegen macht geltend, dass die verbreiteten Zugehörigkeitsgenitive vom Typ (de)s Meiers Anna den Ausgangspunkt für eine Reanalyse des Genitivflexivs als Neutrumflexiv gebildet haben könnte. Will man diese Hypothese für weibliche Rufnamen-Neutra verifizieren, so ist der Nachweis zu erbringen, dass derartige Zugehörigkeitsausdrücke vornehmlich für Frauen benutzt wurden resp. werden (cf. Schweden in diesem Band). Die ‚Diminutiv-Hypothese‘ schliesslich nimmt einen morphologischen Ausgangspunkt für die neutrale Genuszuweisung an und sieht den Ursprung neutraler Rufnamen bei der Diminution resp. dem durch das Diminutivsuffix ausgelösten morphologischen Kopfletztprinzip (nachfolgend: KLP).3 Diese Hypothese hat zu ihrer Verifikation den Nachweis zu erbringen, dass diminuierte neutrale Namen dermassen häufig waren, dass sie sich als ‚Defaultnamen‘ auf die Genuszuweisung bei sog. Vollformen auswirken konnten (cf. Baumgartner/Christen 2017).4
In den nachfolgenden Kapiteln werden die synchronen Befunde, die weitgehend aus dem Projekt „Das Anna und ihr Hund – Weibliche Rufnamen im Neutrum“5 stammen, und – soweit vorhanden – ältere Belege daraufhin besehen, ob sie plausibel mit der Diminutivhypothese in Verbindung gebracht werden können. Kapitel 2 befasst sich mit semantisch-pragmatischen Aspekten der Diminution und dem damit zumeist durch das KLP ausgelösten Genuswechsel. Da eher weibliche onymische Neutra vorkommen (cf. Christen 1998; Baumgartner/Christen 2017), wird in Kapitel 3 der Frage nachgegangen, ob erstens die Diminution vor allem bei Frauennamen zum Zuge kommt, und ob es zweitens geschlechtstypische Diminutivsuffixe gibt. In Kapitel 4 werden die Ergebnisse aus aktuellen Befragungen zum synchronen Stand der onymischen Neutra präsentiert, woraus Indizien für die diachrone Herausbildung der neutralen Rufnamen abgeleitet werden. Kapitel 5 ergänzt die Befunde aus Kapitel 4 um weitere – vor allem auch ältere – vornehmlich belletristische Belege, die sich zu einem kohärenten Bild der Entstehung der weiblichen und männlichen onymischen Neutra fügen sollten. Als Stütze der Argumentation dient dabei ein Exkurs zu den diminuierten Verwandtschaftsnamen, bei denen sich eine besondere Affinität zum Neutrum zeigt, und der die eingangs aufgeworfene Frage nach deren Rolle bei der diachronen Herausbildung der Neutra beantworten soll. In einem Ausblick in Kapitel 6 soll, ausgehend vom Befund, dass andere onymische Suffixe ebenfalls Genus-Sexus-Diskordanzen in die Wege leiten, die Diskussion angestossen werden, ob die Suffixe nicht blosse Mittel zum Zweck eines eigentlich angestrebten genus-sexusdiskordanten Genus sind.
2 Zu Semantik und Pragmatik der Diminutivsuffixe
Die Diminutivsuffixe, die nachfolgend als Ausgangspunkt onymischer Neutra erwogen werden, zeigen inhaltlich-funktionale und grammatische Eigenheiten, die im Zusammenhang mit Rufund Verwandtschaftsnamen von besonderer Relevanz sind. Über die eigentliche Ausgangsbedeutung der Diminutivsuffixe besteht keine Einigkeit: Während Jurafsky (1996) davon ausgeht, dass eine Bezeichnung für ‚Kind‘ den Ausgangspunkt bildet für semantische und pragmatische Entwicklungen zu den heutigen Suffixen, reklamieren Dressler/Barbaresi (2001: 43) gerade umgekehrt, „that pragmatics is a superordinate of semantics“. Ebenso unterschiedlich wird die Bandbreite von Bedeutungen, die sich zwischen positiver Wertschätzung und negativer Verächtlichkeit aufspannen, durch semantische und pragmatische Prozesse erklärt (cf. Biały 2013). Synchron betrachtet können Diminutive im Zusammenhang mit Konkreta objektive ‚Kleinheit‘ ausdrücken (Tischchen‚kleiner Tisch‘), „häufiger ist aber die subjektive Empfindung der Kleinheit, etwa beim Ausdruck der Zärtlichkeit oder der Herabsetzung. [...] Häufig ist auch die Diminuierung von Nahestehendem (mein Häuschen, mein Gärtchen)“ (Seebold 1983: 1250).6 Ob die Attribuierungen von diminuierten Namen mit klein wie in (1) bloss die ‚objektive‘ Kleinheit pleonastisch verstärken oder aber das Adjektiv eine ‚subjektive‘ Kleinheit, die allenfalls das Diminutiv kodiert, um ‚objektive‘ Kleinheit ergänzt, muss offen bleiben:
(1) „[...] sprang der jüngste Knabe, der kleine Fritzchen, in die Stube und glich vollständig einem kleinen Sankt Georg.“
(Keller: Frau Regel Amrain und ihr Jüngster, Bd. I, 1978: 161)
Überdies gibt es Sprachen, „bei denen der Gebrauch von Diminutiven so allgemein vorherrscht, daß deren Funktion eigentlich nur noch in der Markierung einer bestimmten Sprechweise besteht“ (Seebold 1983: 1250). Das Diminutiv kann vor diesem Hintergrund gar als entscheidendes Kontextualisierungsmittel zur Idyllisierung der dialektalen Erzählwelt fungieren und dazu dienen, „einen volkstümlichen Ton anzustimmen“ (Lameli 2018: 14), wie der folgende Beleg illustriert: „Au d Reeli händ si näbet s Eseli is Höi gläit. Nu d Hasefrau hät na schnäll s Chacheli uusgspüelt im Geltli.“ (Peter unveröff.).
Bei diminuierten Rufund Verwandtschaftsnamen, die im Zentrum des Interesses stehen, dürften genau die von Seebold (1983: 1250) erwähnten Aspekte der „subjektiven Empfindung“ Rolle spielen: Die diminuierten Namen drücken (vorerst) Zärtlichkeit aus, wie sie sich zwischen Nahestehenden einstellen kann. So wird in der Novelle „Das verlorene Lachen“ in Gottfried Kellers Zyklus „Die Leute von Seldwyla“ das -i-Suffix explizit als Verzärtlichungssuffix thematisiert: „Er führte nämlich den heiter klingenden Namen Jukundus Meyenthal und wurde [von den Seldwylern, H.C.] mit allgemeiner Zärtlichkeit schlechtweg der Jukundi genannt“ (Keller: Das verlorene Lachen, Bd. II, 1978: 242). Sind diminuierte Namenformen jedoch – im familialen oder nachbarschaftlichen Kreis – üblich geworden, können sie zu Normalformen werden, die die ursprünglichen Namen fast vergessen lassen, wie das im Votum einer Gewährsperson aus einer aktuellen Befragung im Wallis deutlich wird (cf. Schläpfer i. Vorb.):
(2) Befragung des Probanden M45 in Brig (VS)7
Der Gebrauch der modifizierten Namen – vom Befragten in (2) als „Kosenamen“ (Zeile 09) bezeichnet – verweist auf einen situativen Kontext, hier auf einen Nähe-/Vertrautheitskontext, der umgekehrt die Wahl von Vollformen zumindest einschränkt.
Bei der Diminution ist aber nicht ausschliesslich die Semantik des Affixes kommunikativ relevant, sondern auch dessen Kopfeigenschaft, dem Nomen neutrales Genus zuzuweisen. Die Genusklasse der Neutra enthält – anders als jene der beiden anderen Klassen – zahlreiche Inanimata, so Bezeichnungen für „Gegenstände, Stoffe und Flüssigkeiten, [...] an Animata nur geschlechtsunreife Jungmenschen und Tiere“ (Kotthoff/Nübling 2018: 86; cf. zudem Krifka 2009). Diese Genusklasse verträgt sich insofern gut mit der Bedeutung des Diminutivsuffixes, als dieses via metonymischer und metaphorischer Prozesse „Bedeutungskomponenten wie ‚jung‘, ‚niedlich‘, ‚fein‘, ‚bescheiden‘, ‚unbedeutend‘ umfassen kann“ (Stricker 2000: 236), die allesamt eine verminderte Belebtheit beinhalten. Der Genuswechsel in die „Klasse des Unbelebten“, deren Mitglieder über wenig oder keine Agentivität verfügen, erfolgt im Falle von Personenbezeichnungen auf Kosten der sonst üblichen Genus-Sexus-Konkordanz. Die erzeugte Devianz löst evaluative Zuschreibungen aus, die mutmasslich dafür sorgen, dass dieselbe formale Ausgangslage, nämlich die Suffigierung, bei Frauenund Männernamen in Bezug auf die Genuszuweisung unterschiedlich gehandhabt werden kann.
3 Gendertypik von Diminution und von Diminutivsuffixen
Wird die Diminution als Auslöser der onymischen Neutra geltend gemacht, so stellt sich die Frage, ob diminuierte Rufnamen gleichermassen für Frauen wie für Männer zum Zuge kommen und ob sich bei den Diminutivsuffixen selbst eine Geschlechtstypik zeigt.
Die Daten aus der Online-Umfrage des oben genannten Forschungsprojekts sowie zusätzliche Recherchen zum aktuellen Vorkommendiminuierter Frauenund Männernamen zeigen, dass erwachsene Frauen im Vergleich zu erwachsenen Männern deutlich öfter mit Namen bedacht werden, die mit einem Diminutivsuffix modifiziert sind (cf. Tabelle 1). Die Online-Umfrage, bei der danach gefragt wurde, ob man Frauen oder Männer kenne, die altersunabhängig einen diminuierten Namen tragen resp. trugen,8 ergibt über 2’187 Nennungen für Frauen und vergleichsweise bescheidene 361 für Männer. Selbst in Todesanzeigen9, die durch ihren öffentlichen Charakter restriktiven Gebrauchsbedingungen unterworfen sind, können diminuierte Namenformen vorkommen, was als deutliches Indiz dafür gelten kann, dass diese für die so Benannten zur Normalform geworden sind. Auch hier zeigt sich, dass Frauen doppelt so oft mit modifizierten Rufnamen benannt werden, was bemerkenswert ist angesichts der häufigeren Todesanzeigen für Männer im untersuchten Zeitraum (cf. Fussnote 9). Die Rufnamen Diminution zeigt also eine ausgeprägte Asymmetrie: Es sind aktuell vor allem – notabene ältere oder bereits verstorbene – Frauen, die einen modifizierten Namen tragen.
Nebst der geschlechtsabhängigen Asymmetrie im Zuspruch zur Diminution offenbart die Tabelle 1 nun auch eine geschlechtsabhängige Asymmetrie bei den verwendeten Suffixen selbst. Zwar können die beiden Modifikatoren -. und -li, die bei den Rufund Verwandtschaftsnamen eine dominante Rolle spielen, bei Frauenund Männernamen vorkommen, der Zuspruch zu -.und -li-Namen ist jedoch unterschiedlich: Insbesondere die -li-Diminutive erweisen sich als eigentliche weibliche Geschlechtstypika. Dieser Befund lässt nun nachfolgend die Frage diskutieren, ob die beiden Diminutivsuffixe -i und -li, die bei den Rufund Verwandtschaftsnamen präferiert werden, überhaupt gleichwertig sind (andere Diminutiv-Affixe spielen eine marginale Rolle, cf. Baumgartner/Christen 2017; SDS III: 155–158).
Die Suffixe -(e)li und -i gehen auf ahd. -(i)lîn/-în zurück und zeigen neutrales Genus (cf. Henzen 1957: 143), was zumindest bei Appellativen ausnahmslos der Fall ist (z. B. es Hündli n., es Hündi n. ‚ein Hündchen‘). Laut Hodler (1911: 115) hat das Suffix -i seine diminuierende Bedeutung zunehmend verloren, es sei zu einem „Verstümmelungssuffix“ geworden, das vor allem zur Bildung von Kurzformen diene.10 Während Klein/Solms/Wegera (2009: 102) für das Mittelhochdeutsche tatsächlich nur noch -(e)līn und -(e)lī (z. B. küniclīn n., hērrelīn n., juncvröüwelīn n.,) als Diminutivsuffixe belegen können, wird entgegen Hodlers Einschätzung die Endung -i vom SDS (III: 149, 156) jedoch nach wie vor als produktives Diminutivsuffix für das Berner Oberland, das Wallis, Freiburg, die Innerschweiz und Luzern ausgewiesen. Die „Alltäglichkeit“, die Hodler (1911: 115) dem -i-Suffix attestiert, zeigt sich jedoch im Bereich der Rufnamen insofern deutlich, als entsprechend modifizierte Namen wie Ruedi (< Rudolf) oder Lotti (< Charlotte/Liselotte) von ihren Vollformen abgekoppelt sind und als eigenständig geltende Namen auch behördlich erfasst werden können resp. dürfen.
Modifizierte Eigennamen auf -(l)i(n) sind seit dem 13. Jahrhundert im Südwesten des deutschen Sprachraums gängig (Kunze 2003: 22) und lassen sich etwa in Heinrich Wittenwilers Lehrgedicht „Ring“ – um 1400 in der Bodensee-Gegend entstanden – finden. Dessen männliche und weibliche Hauptperson heissen Bertschi Triefnas und Mätzli (auch Mätzlein oder Mätz) Rüerenzumph, tragen also modifizierte Namen, wobei die beiden Suffixe -. und -li – zufälligerweise? – nur bei jeweils einem Geschlecht vorkommen.
Das „Weinspiel“ – vom Berner Hans Rudolf Manuel verfasst und 1548 erschienen – dokumentiert die Geläufigkeit modifizierter männlicher und weiblicher Rufnamen aufs Eindrücklichste,11 und zwar kommen hier -i und -li für beide Geschlechter vor: Bei den vielen modifizierten Namen12 (Heiny Fräfenrotzig [< Heinrich], Ludy Süwburst [< Ludwig], Rägeli Spitznäsly [< Regula], Jaegkly im Thaenn [< Jakob], Pauly Gumpostbruy [< Paul], Cläwy Tryfuoß [< Nikolaus], Uly Knopff [< Ulrich], Freny Wytmüly [< Verena] usw.) ergibt sich die humoristisch überzeichnende Charakterisierung der Namenträger dabei nicht etwa aus den modifizierten Rufnamen, sondern aus den sprechenden familiennamenartigen Fiktionymen.
Erst in jüngeren Belegen aus dem frühen 19. Jahrhundert zeichnen sich bei den frequentesten Diminutiv-Suffixen -i und -li verschiedene „Gebrauchswerte“ (Seebold 1983: 1250) ab, wie sie sich bei der Koexistenz mehrerer funktional übereinstimmender Affixe gemeinhin herausbilden können. Die fiktionale Rufnamengebung im Werk von Jeremias Gotthelf (1797–1854) lässt solche unterschiedlichen „Gebrauchswerte“ erkennen. In Gotthelfs eigentümlicher „Halbschriftsprache“ (Hodler 1969: 5), die Dialektales kunstvoll mit der hochdeutschen Schriftsprache verwebt, sind Allonyme zu denselben Rufnamen belegt:
(3) „Sie war eine rüstige Frau; aber zehn Beine und zwanzig Hände hatte sie doch nicht, sie rief daher: ‚Stüdeli, Lisebetli, Bäbeli‘, dann ‚Stüdi, Lisebet, Bäbi!‘, aber niemand gab Bescheid; sie rief: ‚Hansli, Joggeli, Christi, Peterli‘, und wieder ‚Hans, Joggi, Christen, Peter!‘13, aber niemand kam.“14
(Gotthelf: Der Bauern-Spiegel, 1955: 23)
Die weiblichen und männlichen Rufnamen sind bei unmarkierter Sprechweise hier fast durchwegs mit -li suffigiert; bei ungehaltener, fordernder Anrede kommt bei Frauen jedoch das -i-Suffix, bei Männern mitunter der Vollname zum Zuge. Ein nachdrücklicher Befehlston geht also nicht mit -li-Diminutiven einher, sondern dafür werden – vor allem bei den Frauennamen – allenfalls noch -i-Diminutive verwendet, was für ein grösseres Zärtlichkeitsoder zumindest Nähepotential von -li spricht. Die beiden Suffixe scheinen auch in Gotthelfs Roman „Anne Bäbi Jowäger“ nicht zufällig mit den Rufnamen der Protagonisten verbunden zu werden, dort aber nicht pragmatisch gesteuert zu sein, sondern von den Eigenschaften abzuhängen, die den fiktionalen Namenträgern zugeschrieben werden: Die als liebevoll gezeichneten Charaktere erhalten tendenziell das -li-Suffix (Hansli .., Jakobli m., Meyeli n.), die als resolut gezeichneten dagegen das -i-Suffix (Anne Bäbi n./f., Lisi n., Mädi n.),15 d. h. dem -.Suffix scheint das Potential zuzukommen, den Personennamen männlich zu genderisieren.
In dem etwas jüngeren und am Hochdeutschen orientierten Novellenzyklus „Die Leute von Seldwyla“, den Gottfried Keller (1819–1890) in eine „kleine Stadt dieses Namens gelegen irgendwo in der Schweiz“ (Keller: Die Leute von Seldwyla, Bd. I, 1978: 3) verortet, erhalten die Figuren der fiktiven Welt Namen, die diesen Lokalbezug verdeutlichen (Regel16 [< Regula], Züs(i) [< Susanne] als typische Schweizer Rufnamen[formen]). In Bezug auf die modifizierten Namenformen zeigt sich – anders als bei Gotthelf – eine deutliche Geschlechterasymmetrie. Erwachsene Männer erhalten in den Novellen allenfalls Namen auf -i .Viggi m. [< Viktor] in „Die missbrauchten Liebesbriefe“); die Figur Fritz („Frau Regel Amrain und ihr Jüngster“) wird ausschliesslich als Kind mit Fritzchen m. benannt (cf. Beleg 1). Anders die Frauenfiguren, bei denen neben Vollformen sowie hochdeutschen -chenund -lein-Namen für erwachsene und verheiratete Frauen (Estherchen f., „Pankraz der Schmoller“; Nettchen f. In „Kleider machen Leute“; Käthchen f., „Die missbrauchten Liebesbriefe“) mit Gritli n./f. („Die missbrauchten Liebesbriefe“) auch ein mit dem dialektalen Diminutivsuffix modifizierter Frauenname vorkommt. Der Zivilstand wird also nicht etwa am (Nicht-)Vorhandensein des Diminutivsuffixes erkennbar, sondern Keller verwendet dafür die Kategorienbezeichnungen Frau oder Jungfer/Jungfrau .Jungfrau Liselein Federspiel f., „Der Schmid seines Glücks“; Frau Ännchen f., „Die missbrauchten Liebesbriefe“). Ähnlich wie bei Gotthelf wird der weibliche -i-Name Züsi f. (neben Züs f., „Die drei gerechten Kammmacher“) einer negativ gezeichneten Frau zugeeignet. In der Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ – die „eine halbe Stunde“ von Seldwyla entfernt spielt (Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe, Bd. I, 1978: 67) – haben die männlichen Figuren allenfalls einen -i-Namen (Sali m. [< Salomon], Marti m. [< Martin]), während Vrenchen n. (< Verena) die ‚Julia auf dem Dorfe‘ verkörpert. Dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Namen auf -li (in der Schriftsprache auch -leinund –chen) als eigentlich weibliche (und nicht länger männliche) Rufnamen und gleichzeitig als (zu) gewöhnlich gelten, formuliert Viggi m., der seine Briefe mit Viktor unterzeichnet, in einem Schreiben an seine Ehefrau und deklarierte Muse Gritli: „Ich denke auch schon auf einen idealen Namen für Dich; denn Deinen prosaischen Hausnamen können wir hier nicht brauchen. Wie gefällt Dir Isidora oder Alwine?“ (Keller: Die missbrauchten Liebesbriefe, Bd. II, 1978: 116).
Die Vorliebe für modifizierte Rufnamen bezeugt nun auch – knapp dreihundert Jahre später als das „Weinspiel“ – die „Liste der verstellten und verkürzten Taufnamen“ (Stalder 1994 [1831]: 660–666). In diesem Anhang zu Stalders Idiotikon („Endlich als neueste Zugabe“) finden sich zum Taufnamen Anna etwa die Namenformen Ann, Anni, Anneli, Änni, Änneli, Antschi, Äntschi, zum Taufnamen Michael die Namenformen Michi, Mix. In dieser „Zugabe“ findet man vor allem männliche Rufnamen, zu deren Ableitungen – darunter äusserst zahlreiche wie Adeli (< Adam) auf -li – keinerlei Angaben bezüglich einer allfälligen Soziopragmatik gemacht werden. Anders nun bei den Frauennamen, wo ausschliesslich einige der -iAbleitungen, die immer neben alternativen allonymischen Varianten genannt werden, als grob oder gröber annotiert werden. Dies sind:
(4) Anni, Antschi (< Anna), Tani (< Cajetana), Lini (< Carolina), Trini (< Catharina), Zilli (< Cecilia), Stini (< Christina), Franzi (< Franziska), Vevi (< Genoveva), Belli (< Isabella), Leeni (< Magdalena), Grithi (< Margaritha), Nanni/Nänni (< Maria Anna), Vroni (< Veronika), Burgi (< Waldburga), Veri (< Xaveria).
(cf. Stalder 1994 [1831]: 660–666)
Aufgrund der erläuterten Befunde ist anzunehmen, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts der -li-Ableitung eine andere Funktionalität als der -i-Suffigierung zukam. Dass -i-Ableitungen bei Frauennamen offenbar als grob empfunden wurden, ist möglicherweise auch dem Einfluss negativ wertender – notabene maskuliner – Personenbezeichnungen auf -i .Stürmi, Zanggi) (Henzen 1957: 144) zuzuschreiben, die ebenfalls auf ahd. -in zurückgehen (cf. Dammel in diesem Band). Die mit -i suffigierten weiblichen Rufnamen scheinen weniger gut zur weiblichen Genderkonzeption der damaligen Zeit gepasst zu haben als die -li-Namen, resp. eben gerade für jene, die dem sozialen Rollenbild der feinfühligen, zurückhaltenden und artigen Frau nicht entsprachen, als angemessen empfunden worden sein.
Bilanzierend kann aus den Belegen geschlossen werden, dass die Diminution lange Zeit für männliche und weibliche Rufnamen – mit den Suffixen -li und -i – gleichermassen möglich war. Erst ab dem 19. Jahrhundert, in dem sich die Polarisierung der Geschlechterrollen ohnehin durch die Vorstellung sog. „Geschlechtercharaktere“ und des „Wesens der Geschlechter“ verstärkt haben dürfte (Hausen 1976: 363), scheint sich das -li-Suffix zu einem weiblichen Gendertypikum entwickelt zu haben. Ob diese Entwicklung durch den Umstand begünstigt wurde, dass es sich bei -li um jenes Suffix handelt, das – im Vergleich zu -i – als substanzreicheres Derivativ die stärkste diminuierende Kraft entfaltet, muss offenbleiben. Jedenfalls verfügt(e) dieses hoch produktive Diminutivsuffix – anders als dies bei -i der Fall ist – über keine weiteren Funktionen, so dass die Ausgangslage für die Zuweisung des „‚Diminutivgenus‘ Neutrum“ (Kotthoff/Nübling 2018: 146) bei den, jetzt vornehmlich weiblichen, -li-Namen besonders günstig (gewesen) sein dürfte.17
4 Onymische Neutra: Der aktuelle Befund und seine diachrone Interpretation
Im Rahmen des Forschungsprojekts „Das Anna und ihr Hund“ wurden Daten zur onymischen Genuszuweisung über eine Online-Befragung und über Interviews an elf Untersuchungsorten (Visperterminen, Basel, Luzern, Saanen, Schwyz, Andermatt-Hospental, Elm, Emmetten, Nunningen, Plaffeien, Lauterbrunnen) mit jeweils 6 bis 8 Gewährspersonen verschiedener Altersgenerationen gewonnen.
Im Online-Fragebogen, der für die Deutschschweiz rund 1ʼ700 vollständige Datensätze erbrachte, sind der onymische Artikel und das anaphorische Personalpronomen zu weiblichen und männlichen unveränderten Rufnamen (Ruth, Daniel), zu weiblichen und männlichen Rufnamen mit -i-Modifikation (Gabi, Michi) und zum Verwandtschaftsnamen Mami/Mueti erfragt worden.
Zur Abfrage des (neutralen) onymischen Artikels wurden in der Online-Umfrage Aufgaben mit freier Antwortmöglichkeit entworfen. So zum Beispiel für Ruth:
Das Vorkommen des neutralen Artikels vor weiblichen Vollnamen wie Ruth belegt die Gebräuchlichkeit der neutralen Vollnamen in den entsprechenden Dialektregionen.
Die Abbildung 1 zeigt die räumliche Verbreitung des Artikels vor den weiblichen Rufnamen Ruth und Maria, die sich auf drei Kerngebiete der onymischen Neutra konzentriert: Viele Belege für (d)s Ruth oder (d)s Maria stammen aus der Nordwestschweiz, namentlich aus den Regionen Basel-Stadt/Basel-Landschaft sowie Solothurn, dem Kanton Glarus und dem deutschsprachigen Oberwallis. Vereinzelte Belege finden sich ausserdem in den Kantonen
Bern, im Sensebezirk des Kantons Freiburg sowie in der Zentralschweiz. Deutlich zeichnet sich ein Ost-West-Graben ab: Im Osten der deutschsprachigen Schweiz sind neutrale, nichtdiminuierte weibliche Rufnamen nicht gebräuchlich, während die Tendenz der neutralen Genuszuweisung nach Westen hin zunimmt.
Gleichermassen wurde in der Online-Umfrage auch die Genuszuweisung bei modifizierten Namen in den Blick genommen, dies etwa mit folgendem Frageszenario für den weiblichen Namen Gabi (< Gabriela):
Für das Artikelgenus (Dat.) der Namenform Gabi .mit em Gabi) zeigt sich in Abbildung 2 ein Neutrumgebiet, das beträchtlich über jenes für die neutrale Vollform (cf. Abbildung 1) hinausgeht und sich mit Ausnahme der Nordostschweiz über die gesamte Deutschschweiz verteilt. In der westlichen Deutschschweiz, wo in eingeschränkterem Gebiet auch neutrale Vollformen belegt sind, ist das Neutrum immer auch für modifizierte Namen üblich. Umgekehrt impliziert das Vorkommen von neutralen Diminutivformen nicht das neutrale Genus bei weiblichen Vollnamen. Damit bestätigt sich die Schlüsselstellung der Morphologie in Bezug auf die neutrale Genuszuweisung bei Frauennamen. Dieser diatopische Befund lädt zu diachroner Interpretation ein, wonach das Neutrum von den neutralen weiblichen Diminutivnamen auf die Vollnamen übergesprungen ist. Bei den Männernamen bestätigt sich die morphologische Diminutivhypothese ebenfalls, wenn auch neutrale männliche Rufnamen in nur einem kleinen Areal – im Wallis, vereinzelt im Berner Oberland und im Urserental – vorkommen (cf. Abbildung 3). Das neutrale Genus ist dabei strikt an modifizierte Namenformen wie Michi gebunden (der männliche Vollname Daniel erhält in der Online-Umfrage nie neutrales Genus).19
Schliesslich wurde in der Online-Umfrage auch für den ‚Mutter‘-Namen Mamieine eigene (Ankreuz-)Aufgabe zur Abfrage des Genus für die beiden Targets Artikel und Pronomen erstellt:
Aufgrund der morphologischen Übereinstimmung der onymischen Ableitungen Gabi und Mamiist ein zumindest ähnliches räumliches Gültigkeitsareal für die neutrale Genuszuweisung zu erwarten. Im Vergleich zu neutralem Gabi ist hier aber eine noch grössere räumliche Verbreitung des neutralen Artikels festzustellen, was wiederum für die Diminutiv-Hypothese spricht (cf. Abbildung 4):
Auch in der nördlichen Ostschweiz, wo Gabi fast ausnahmslos mit femininem Artikel verwendet wird, erhält Mami neutrales Genus. 77% der Befragten wählen einen der beiden Sätze mit der neutralen Form s Mami aus (Total: 1’357). Die feminine Form d Mami scheint im Gegensatz zum Standarddeutschen (die Mami) mit Ausnahme von vereinzelten Belege, die sich auffallenderweise v. a. in der ‚neutrumarmen‘ Ostschweiz finden, kaum zu existieren.21
Das Areal mit neutralen weiblichen Verwandtschaftsnamen ist das grösste Neutrumareal überhaupt, und wiederum kann eine implikative Hierarchie festgemacht werden: Wer dem Namentyp Anna neutrales Genus zuweist, macht dies auch beim Namentyp Anni; wer dem Namentyp Anni neutrales Genus zuweist, macht dies auch beim Namentyp Mami, wobei die umgekehrte Implikationsrichtung nicht gilt. Die diachrone Interpretation dieses diatopischen Befundes lässt nun die modifizierten weiblichen Verwandtschaftsnamen als Ausgangspunkt für die onymischen Neutra in Erwägung ziehen. Die Vormachtstellung von neutralen Verwandtschaftsnamen wie Mami – aber auch von Mueti, Grosi oder Gotti – ist in der gesamten Deutschschweiz auffällig. Dass diese Bezeichnungen auch in denjenigen Dialektgebieten Neutrum aufweisen, wo die neutrale Genuszuweisung bei Referenz auf Frauen teils explizit abgelehnt und Rufnamen – selbst solche auf -. – dementsprechend feminin verwendet werden, bestätigt auf den ersten Blick diese These.
Allerdings werden die nachfolgenden Ausführungen zeigen, dass bezüglich dieser Interpretation Zweifel angebracht sind. Vorerst sei hier nur erwähnt, dass die Belege für weibliche onymische Neutra, die für die Ostschweiz des ausgehenden 19. Jahrhunderts beigebracht werden können, gegen eine solche These sprechen, da im heutigen neutralen Mami-Gebiet früher offenbar auch weibliche Namen vom Typ Beti (< Elisabeth) neutrales Genus auslösen konnten:
(5) „Uli: Wo ist heutʼ das Zauber-Beti? / Caspar: [...] Nächstens wird das Beti mich noch ganz verlassen, weil es heim zur Mutter muß. / Uli: Wenn das Beti Deine Wirthschaft nicht mehr führt, so bleiben auch die Gäste aus.“
(Hilty-Kunz 1877: 39)
Demgegenüber sind die weiblichen -i-Verwandtschaftsnamen in der Ostschweiz, wie sich im nachfolgenden Kapitel zeigen wird, höchstens ein halbes Jahrhundert alt. Mögen die Verwandtschaftsnamen also nicht zwingend als ‚Keimzelle‘ der neutralen Genuszuweisung in Frage kommen, so ist zumindest erklärungsbedürftig, warum diese Neutra resistent(er) gegenüber einem Wandel zu sexus-konkordanter Genuszuweisung sind als ‚gewöhnliche‘ Rufnamen und somit zur eigentlichen Bastion der onymischen Neutra werden konnten.
5 Die Wege zu den onymischen Neutra
Die Affinität modifizierter Namen zum Neutrum leistet der Diminutiv-Hypothese Vorschub, wonach diminuierte Namen – unter der Bedingung ihres hochfrequenten Auftretens – das neutrale Genus ausgelöst haben, das in der Folge auch auf die – seltener verwendeten – Vollnamen hat übertragen werden können. In Kapitel 3 ist aufgezeigt worden, dass diminuierte Rufnamen für beide Geschlechter üblich und damit die morphologischen Voraussetzungen für neutrale männliche und weibliche Rufnamen gleichermassen gegeben waren. Im Folgenden sollen zwei Entwicklungspfade nachgezeichnet werden, der eine, der zu männlichen und weiblichen Neutra geführt hat; der andere, der die neutrale Genuszuweisung nur bei weiblichen Rufnamen vorsieht. Dabei ist zu bedenken, dass zumeist keine vollständige Grammatikalisierung des onymischen Neutrums eingetreten ist und die fehlende Obligatorik neutraler Genuszuweisung gerade für jenen variativen Spielraum sorgt, der die Wahl des onymischen Genus für die Kodierung soziopragmatischer Aspekte erlaubt (cf. Baumgartner i. Vorb.).
5.1 Der Weg zum onymischen Genuszuweisungstyp ‚männliche+weibliche Neutra‘
Die Verhältnisse in den westlichen höchstalpinen Dialekten (vornehmlich im Wallis, im Urserental und im Berner Oberland, cf. Marti 1985: 81) sind weitgehend so, wie man sie aufgrund der morphologischen Regel erwarten kann (cf. Abbildung 5): Modifizierte Namen – weibliche oder männliche – können gleichermassen neutrales Genus auslösen.22 Der Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) erfragte im Rahmen seiner Enquête das Genus von Rufnamen zwar nicht, er dokumentiert in Karte SDS III: 146 jedoch zumindest den Gebrauch des Definitartikels bei männlichen Eigennamen und er liefert zudem einen Kommentar, der die Genuszuweisung nach dem KLP in dem genannten Gebiet bestätigt: „Im B[erner] Oberland und im W[allis] wird der Personenname gern im Diminutiv gebraucht und nimmt dann meist den (neutralen!) Artikel zu sich.“ Abgesehen vom bemerkenswerten Umstand, dass der onymische Definitartikel nur bei Genus-Sexus-Diskordanz erforderlich ist (cf. Bösiger in diesem Band), zeigt sich hier zum einen, dass das Diminutiv keineswegs auf Frauennamen beschränkt ist, und zum anderen, dass dergestalt modifizierte Männernamen in einem höchstalemannischen Areal gleichermassen neutrales Genus erhalten können.
Für die grosse Auftretenshäufigkeit männlicher Neutra – materialisiert an sämtlichen GenusTargets wie Artikel, Adjektiv, Pronomen – dürfte in der Vergangenheit23 vor allem der Umstand gesorgt haben, dass für den Bezug auf Männer auch modifizierte Familiennamen („ds Ambordjieiner namens Ambord“ [Wipf 1910: 132]; Bitteltizum Familiennamen Bittel, cf. Beleg 2) sowie modifizierte Bewohnerund Berufsbezeichnungen verwendet wurden: es Bääri, es Saasi (zu den Ortsnamen Bern, Saas., es Schüemachi (zur Berufsbezeichnung Schuhmacher) (cf. SDS III: 155). Die vielen männlichen Neutra, die auf diese Weise zustande kommen, führten offenbar im höchstalemannischen Raum zu einer kritischen Masse, die vereinzelt sogar die Generalisierung des neutralen Genus für sämtliche männliche (und weibliche) Rufnamen in den Bereich des Möglichen rückte. So stellt Wipf (1910: 132) für die früheren Verhältnisse im Walliser Dorf Visperterminen fest: „Oft aber wird der weibliche Taufname (wie auch der männliche) auch ohne Dim[inutiv]-Endung als Dim[inutiv] gebraucht und hat den Artikel in [neutraler] Form bei sich.“ Zumindest ein aktueller Beleg legt nahe, dass neutrale nicht-modifizierte männliche Rufnamen im 20./21. Jahrhundert nicht ganz ausgeschlossen sind (in Abbildung 5 mit gestrichelter Linie visualisiert).
(6) „Im letzten Jahrtausend unternahm ich regelmässig Skitouren im Wallis, und wenn der Vater des bevorzugten Bergführers dabei war, nannte er mich liebevoll ‚ds Peter‘ (und nicht einmal ‚ds Peti‘).“
(Diggelmann 2019: 58)
Während im Wallis das neutrale Pronomen ääs für den Bezug auf männliche Personen vorkommen kann (cf. Wipf 1910: 141; Schläpfer i. Vorb.)24, ist dieses bei einigen Südwalsern gar obligatorisch geworden und führt insofern zu einer Genusnivellierung, als etwa das persönliche Subjektspronomen ääs ‚sie, er‘ keinen Sexusunterschied (mehr) kodiert (cf. Zürrer in diesem Band).
Im höchstalemannischen Sprachraum, insbesondere dem Wallis, sind folglich nicht nur, wie im Mittelland, weibliche, sondern auch männliche onymische Neutra gebräuchlich, was die Mundart-Sängerin Sina in einem Interview wie folgt ironisch kommentiert: „So viel Gleichberechtigung muss sein“ (Dreyfus 2019). Anders als für Männer werden für Frauen aber kaum modifizierte Familiennamen verwendet (ds Bittelti zum Familiennamen Bittel ist sexusspezifizierend männlich). Welche Auswirkungen diese Gebrauchs-Asymmetrie auf die Genuszuweisung und die Markierung des Genus an unterschiedlichen Targets (Artikel vs. Pronomen) hat, wird eine in Vorbereitung befindliche Studie erhellen (cf. Schläpfer i. Vorb.).
5.2 Der Weg zum onymischen Genuszuweisungstyp ‚männliche Maskulina+weibliche Neutra‘
Macht man das Diminutiv als Ursache für neutrale Rufnamen geltend, so ist für jenes Areal, das selbst bei modifizierten männlichen Rufnamen kein neutrales Genus kennt, zu klären, ob bei den maskulinen modifizierten Männernamen das morphologische Kopfletztprinzip seit jeher durch das semantische Genus-Sexus-Prinzip (GSP) überschrieben wurde, Namen wie Ruedi also schon immer maskulines Genus auslösten.25
In Kapitel 3 wurden ältere Texte daraufhin besehen, ob die Diminution bei Frauenund Männernamen gleichermassen belegt werden kann. Nachfolgend soll der Blick darauf gelenkt werden, welches Genus diesen Namen zugewiesen wurde. Da sich der onymische Artikel im Südwesten des deutschen Sprachraums erst spät herausbildet und dort dann teilweise auch obligatorisch wird (cf. Schmuck/Szczepaniak 2014), sind in frühen Texten wie Wittenwilers „Ring“ und Manuels „Weinspiel“ erwartungsgemäss kaum Genus-Targets in der Nominalgruppe des Controllers zu finden. In Vers 1385 des „Ring“ wird Bertschi jedoch folgender Wortlaut in den Mund gelegt: „Halt her, liebes Mätzli, halt“. Dieser weist für das attributive Adjektiv ein neutrales Genusflexiv aus, das in Kontrast steht zu den pronominalen Phorika, bei denen sich für männliche und weibliche Namenträger Genus-Sexus-Konkordanz findet. Die syntagmatische Genushybridität beim weiblichen Rufnamen Mätzli, d. h. das Umbrechen des Genus bei unterschiedlichen Targets, bestätigen Untersuchungen zum neutralen Lexem Weib,das mit genus-sexus-konkordantem Pronomen aufgenommen werden konnte und kann (cf. Fleischer 2012). Bei der pronominalen Wiederaufnahme bestätigt sich die Genuskongruenzhierarchie, wie sie Corbett (1991) formuliert hat, d. h. insgesamt wirkt sowohl bei modifizierten Männerals auch Frauennamen das semantische GSP und nicht das morphologische KLP, das, wenn schon, dann eher in der nominalen Umgebung des Controllers wirksam wird.
Das „Weinspiel“ ergibt einen ähnlichen Befund: Die Phorika sind genus-sexus-konkordant. Dies ist auch der Fall bei einem Übernamen, bei dem eine metonymische Übertragung vorliegt: „Und luog man nun s Schwatzmäßlin26 an / Der wär yetz wol ein rycher man“ (Manuel 1548: V. 4150). Das neutrale Genus des Artikels wird vom Substantiv bestimmt, beim anaphorischen Pronomen ist dagegen das natürliche Geschlecht des Referenten ausschlaggebend für das maskuline Genus.
Leider erspart sich Stalder in der „Liste der verstellten und verkürzten Taufnamen“ (1831) systematische Angaben zum onymischen Genus weitgehend; eine Ausnahme bilden jene Fälle, wo durch Verkürzung/Verstellung Unisex-Namen entstehen wie bei Aloys/Alowysia zu Wisi oder Wiseli. Hier vermerkt Stalder – wiederum nicht systematisch –, dass Männernamen maskulines, Frauennamen neutrales Genus haben (Stalder 1994 [1831]: 661), woraus sich eine geschlechtsabhängige Genuszuweisung erschliesst: (zumindest) „verstellte und verkürzte“ Frauennamen lösen neutrales, entsprechende Männernamen maskulines Genus aus. Aus synchron-funktionaler Sicht betrachtet erlauben die unterschiedlichen Genuszuweisungen zu Stalders Zeiten ein Gendering der Rufnamen, denen durch ihre Modifikationen die Information über das Geschlecht der Namenträger abhandenkommen könnte (Seppelisowohl zu Josephus und als auch zu Josepha; Stalder 1994 [1831]: 664).
Auch bezüglich der Genuszuweisung erweist sich das Werk Jeremias Gotthelfs (1797–1854) als ergiebig. Die verwendeten Eigennamen zeigen in Bezug auf die Genuszuweisung eine offenkundige Systematik: Die männlichen und weiblichen Figuren der erzählten bäuerlichen Welt – Kinder und Erwachsene – tragen z. B. im Roman „Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm beim Doktern geht“ mit -i oder -li suffigierte Namen, z. B. Hansli Jowäger, Jakob(e)li, Kobeli, Vehhansli, Sami, Rudi, Joggi, Anne Bäbi Jowäger, Lisi, Mädi, Meyeli (cf. Kapitel 3). Die neutrale Genuszuweisung bei modifizierten weiblichen Rufund Verwandtschaftsnamen – materialisiert an den verschiedenen Targets – zeigt sich bereits in der Titelei wie auch in den nachfolgenden Zitaten:
(7) „Hansli Jowäger hatte sein Anne Bäbi erst geheiratet, als seine Mutter gestorben und beide weit über die Dreißig hinaus waren. Er wolle seinem Muetti keinen Verdruß mit einem Söhniswyb machen, sagte er.“
(Gotthelf: Anne Bäbi Jowäger, Bd. I, 1955: 7)
(8) „und beide trieben Anne Bäbi doch hinein, nachdem es dem Stallknecht grusam befohlen hatte, auf den Hansli zu luegen“
(Gotthelf: Anne Bäbi Jowäger, Bd. I, 1955: 111)
(9) „Anne Bäbi begann zu glauben, es sei verhexet, und als es nach langem Kreislauf in die Pinte auf dem Säumärit wiederkam und vernahm, daß alle dagewesen: das Murer Vreni und die Zyberlibäurin und Hansli, sein Mann, da glaubte es es ganz und gar und sagte, zSolothurn sehe man es nicht so bald wieder.“27
(Gotthelf: Anne Bäbi Jowäger, Bd. I, 1955: 111)
Der modifizierte Männername Hansli löst maskulines Genus aus, die modifizierten Frauennamen Anne Bäbi, Muetti, Murer Vreni zeigen neutrales Genus. Der nicht-modifizierte Frauenname Sophie28 und die Kurzform Grit – es handelt sich um die Namen von zwei Pfarrerstöchtern – weisen nun ebenfalls neutrales Genus auf, notabene bei Personalund Possessivpronomen:
(10) „Ganz so ward es freilich Sophie nicht, aber doch bang und düster im Gemüte, es war ihm, als hange ein unendlich Unglück über ihns hinein, als sinke dasselbe langsam näher und immer näher, als presse es eng seine Brust bereits zusammen, wenn es gleich seine Augen noch nicht erblickten.“
(Gotthelf: Anne Bäbi Jowäger, Bd. II, 1955: 418)
(11) „‚Herr Jeses, das ist üses Grit‘ sagte Sophie, ‚was hets ächt gä?‘ Somit lief es zur Türe aus, Grit vors Haus entgegen.“
(Gotthelf: Anne Bäbi Jowäger, Bd. II, 1955: 419)
In Gotthelfs „Anne Bäbi Jowäger“ zeigt sich ein Genuszuweisungssystem, das für Männernamen maskulines, für Frauennamen neutrales Genus vorsieht, unabhängig von der formalen Ausgestaltung des Namens.29 Es ist dies jenes Zuweisungsprinzip, das Busley (2019: 50) bereits in Heinrich Pestalozzis Roman „Lienhard und Gertrud“ (1785) nachweisen kann und in den Schweizer Kerngebieten des onymischen Neutrums (Glarus, Innerschweiz, Bern, Nordwestschweiz) bis zum heutigen Zeitpunkt noch greifbar bleibt.
Im Gegensatz zu Gotthelf orientiert sich Keller stärker an den Konventionen des Hochdeutschen, d. h. die Genuszuweisungen geben wenig verlässliche Auskunft zum gesprochenen Dialekt. Dass die diminuierten Namen, meistens für Frauen vergeben, fast ausnahmslos sexus-konkordantes feminines Genus aufweisen, hat von daher wenig Aussagekraft. Allerdings zeigen Belege für – ausschiesslich weibliche – Neutra, dass sexusdiskordante Genuszuweisung bei modifizierten Frauennamen möglich war: In „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ wird Vrenchenhäufiger mit neutralem als mit femininem Genus verwendet; in „Die missbrauchten Liebesbriefe“ wird Gritli in Briefen ihres Ehemannes mit „Liebes Gritli“ angeschrieben.
Die Beleglage zeigt, dass „verstellte und verkürzte“ Taufnamen (Stalder 1994 [1831]: 660) in der Vergangenheit sowohl für Frauen als auch für Männer gang und gäbe waren. Diese Modifikationen scheinen sich vorerst nicht auf das Genus der pronominalen Verweismittel ausgewirkt zu haben, das nach dem semantischen GSP ausgerichtet wurde. In der Nominalgruppe des Eigennamens dagegen konnte das morphologische KLP eher greifen. Dieses scheint aber im Mittelland seine Wirkkraft genderabhängig entfaltet zu haben. Bei modifizierten Frauennamen etabliert es das neutrale Genus, das sich dann an sämtlichen Targets festsetzt und sogar zur Ausbildung des Pronomens ääs/ihns geführt hat, dessen materielle Fülle sich einem – wohl schon länger zurückliegenden, aber zeitlich nicht exakt fassbaren – Grammatikalisierungsprozess verdankt (cf. Klein/Nübling 2019). Bei dieser Form handelt es sich insofern um ein Personalpronomen im engeren Sinne, als es tatsächlich nur in Bezug auf Menschen verwendet werden kann.
Bei modifizierten Männernamen bleibt das GSP ausschlaggebend. Neutra sind hier kaum beizubringen.30 Mit dem Volkslied „Mues alliwyl s plaagete Hansly sy“ (‚(Ich) muss immer das geplagte Hänschen sein‘) (Anderau 1962: 51) kann eine dieser seltenen Ausnahmen dokumentiert werden. Diese lässt erwägen, dass die Genuszuweisung bei Männernamen zwar – unabhängig von der Namenform – „immer“ 31 nach dem GSP erfolgt (durchgezogene Pfeile in Abbildung 6), aber die Möglichkeit bestehen bleibt, mit dem Neutrum punktuell das GSP zu verletzen und mit der Deagentivierung einen besonderen Effekt zu erzeugen, etwa, wie im Liedtext, um die Bedürftigkeit und Hilflosigkeit der männlichen Referenzperson herauszustreichen (gestrichelte Pfeile in Abbildung 6; cf. auch Fussnote 6) oder um Intimität zu kodieren (cf. zu den neutralen ‚Vater‘-Namen Kapitel 5.3).32
Dieselbe Ausgangslage – modifizierte Rufnamen als die eigentlichen im Alltag verwendeten Rufnamen – hat nun unterschiedliche Konsequenzen für das Genus der „unverstellten“ Taufnamen: Wird das bei den modifizierten Formen übliche Genus auch auf die Vollformen, d. h. die Taufnamen, übertragen, führt dies bei den weiblichen Namen zu einer Generalisierung des neutralen Genus. Bei den männlichen Taufnamen muss dies zwangsläufig andere grammatische Konsequenzen haben. Da die ebenso häufigen „verstellten und verkürzten“ männlichen Rufnamen in aller Regel kein neutrales Genus zeigen, bleibt es auch bei den Vollnamen beim Maskulinum.
Erwägungen darüber, warum das GSP bei männlichen, nicht aber bei weiblichen Rufnamen das KLP ausser Kraft setzt, werden im nachfolgenden Kapitel angestellt.
5.3 Exkurs: Das Mami und das Ätti – die (letzte) Bastion onymischer Neutra in der Deutschschweiz?
Die – notabene modifizierten – Verwandtschaftsnamen zeigen, wie bereits in der Einleitung thematisiert, eine besonders ausgeprägte Affinität zum neutralen Genus. Während bei den Rufnamen das neutrale Genus vom modifizierten Namen auf den Taufnamen überspringen kann, ist dies bei männlichen und weiblichen Verwandtschaftsnamen nicht möglich. Formen wie Mamme, Mamma, Grossmueter, Tante sind immer genus-sexus-konkordant (s Mueter n., s Tante n. etc. sind nicht belegt). Syntagmen mit einer Kombination von Verwandtschaftsund Rufname wie s Tante Rosa sind insofern keine Gegenbelege, als diese nur in den neutralen Kerngebieten vorkommen können und somit offenkundig der weibliche Rufname als Kopf der Bildung fungiert und das Neutrum auslöst. Was die männlichen Verwandtschaftsnamen im Wallis betrifft, so hängt das Genus von der Morphologie des Rufnamens ab: Der Oberwalliser Beleg ds Onkel Walti dokumentiert, dass der diminuierte Männername (und nicht der Verwandtschaftsname) als Kopf fungiert und der Nominalgruppe neutrales Genus zuweist.
Nachfolgend soll auf die Frage nach der neutralen Genuszuweisung bei ‚Mutter‘und ‚Vater‘Namen eingegangen werden.33 Dies lässt auch semantisch-funktionale Aspekte des Diminutivs und des neutralen Genus nochmals ins Spiel kommen, die für die Genese der onymischen Neutra insgesamt von Relevanz sind.
Das Genuszuweisungssystem, wie es sich in Gotthelfs „Anne Bäbi Jowäger“ zeigt, lässt erwarten, dass männliche modifizierte Verwandtschaftsnamen maskulines, weibliche dagegen neutrales Genus zeigen (cf. Kapitel 5.2), was sich auch weitgehend bestätigt (zu Muettin. cf. Beleg 7), zu Ätti m.:
(12) „‚Nein, wäger nicht‘, sagte Jakobli, ‚kein Mensch hat darum gewüßt, auch kein einziger, der Ätti nit, dr Sami nit u ds Mädi de gar nit.‘“
(Gotthelf: Anne Bäbi Jowäger, Bd. I, 1955: 270)
Hinweise zur onymischen Genuszuweisung lassen sich nun auch aus den – zeitlich um ein Jahrhundert jünger anzusetzenden – Kommentaren zu den Verwandtschaftsnamen im Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS IV: 117–130) erschliessen. Dort geben für ein einzelnes verwandtschaftliches Verhältnis jeweils zwei Karten Aufschluss über den älteren oder ehemaligen Ortsgebrauch gegenüber jenem der Kinder. Obwohl die Bezeichnungstypen im Vordergrund des Interesses stehen, werden die Antworten der Gewährsleute teilweise mit Artikel oder Possessivpronomen verzeichnet. Finden sich dort einschlägige Hinweise zum Genus, so scheint bei den mit -i suffigierten ‚Mutter‘-Namen ausnahmslos neutrales Genus auf, während Formen wie Mamme oder Mamma sexuskonkordantes Genus haben.34 Der Abgleich der Karten SDS IV: 121 (älterer Sprachstand) und SDS IV: 122 (jüngerer Sprachstand) zeigt, dass westschweizerisches Mueti/Müeti n. sich vom Westen in Richtung Osten auszubreiten scheint, wo auch im jüngeren Gebrauch jedoch nach wie vor die Formen Mueterf. und Mamme f. vorherrschen. Die in der aktuellen Befragung präferierte Form Mami erweist sich damit als ‚neuer‘ Verwandtschaftsname, der eher im Osten vorkommt, wobei er im SDS an bloss sieben Belegorten ausgewiesen ist. Zeitlich und räumlich bedingte Unterschiede bei den ‚Mutter‘Namen lassen sich auch mit den Daten des Schweizer Textkorpus erhärten (cf. Schweizer Textkorpus). Im Schweizer Hochdeutschen des 20. Jahrhunderts zeigt sich, dass Mutti (eine mögliche ‚Verhochdeutschung‘ von Mueti) vor allem in Texten aus der westlichen Deutschschweiz, Mami dagegen eher in ostschweizerischen Texten ab der Mitte des 20. Jahrhunderts belegt ist.35
Diese Befunde machen evident, dass der aktuelle Zuspruch zu Mami mit neutralem Genus, wie er in Kapitel 4 berichtet wird, nicht diachron als ‚Keimzelle‘ der neutralen Genuszuweisung interpretiert werden darf, sondern pragmatische Gründe zu veranschlagen sind, warum sich das neutrale Genus bei Verwandtschaftsnamen besonders gut halten kann.
Was nun die Gotthelf’sche Genuszuweisung bei den ‚Vater‘-Namen betrifft, so wird entgegen dem Rufnamen-Usus (Typ Hansli m.) bei einem männlichen, mit -li modifizierten Verwandtschaftsnamen, der in den Mund der Ehefrau gelegt wird, anders verfahren:
(13) „‚O Papali‘, sagte dann das Mamali [...] Darauf hielt ihr dann das Papali gewöhnlich ein Kapitel über Wert und Folgen des Rühmens, das einen eigenen Platz haben muß.“
(Gotthelf: Anne Bäbi Jowäger, Bd. II, 1955: 57-58)
Neutrales Genus kann überdies mit einem zeitlich etwas früheren Beleg aus einem Berner Volkskalender ausgewiesen werden:
(14) „d’s Aetti u d’s Müeti lan ech z’tusimahle grüsse“ (‚das Ätti und das Müeti lassen euch tausendmal grüssen‘)
(Historischer Kalender, oder der Hinkende Bott, auf das Jahr Christi 1805. Bern, bey Ludw. Albrecht Haller, in der Inselgass)
Ätti mit neutralem Genus wird hier in einen Kindermund gelegt und von einem Pfarrer, vom „Herrn Predikant“, als Echo wieder aufgenommen: „Dank heig fry d’s Aetti und d’s Müeti“ (‚Dank habe sehr das Ätti und das Müeti’).
Diesen neutralen ‚Vater‘-Namen soll nun am Beispiel von Ätti nachgegangen werden. Das Idiotikon (I, 583, Erscheinungsjahr 1883) führt das Lemma Attauf und weist für älteren Sprachgebrauch Att/Ätti zum einen als einen teils kindersprachlichen Verwandtschaftsnamen, zum anderen aber auch als gängige ‚Vater‘-Bezeichnung aus, so z. B. „Verfluecht sygist du, aller këtzer ätti, Zwingli“ (Id. I: 585, Zitat aus dem 16. Jahrhundert). Ätti soll überdies nach Ausweis des Wörterbuchs als ehrende Anredeform gegenüber Bischöfen und alten Männern verwendet worden sein. Att und Ätti erscheint dabei in den Belegen mit maskulinem Genus, dessen Verankerung auch an der verbreiteten Form Drätti erkennbar ist, bei der der maskuline Artikel amalgamiert ist.
Dass (modifiziertes) Ätti im 19. Jahrhundert als ‚Vater‘-Kategorienbezeichnung und -Verwandtschaftsname gängig und üblich ist,36 wird auch durch Franz Josef Stalders „Landessprachen der Schweiz“ (1819) gestützt. Dort finden sich 41 Übersetzungen des „Gleichnisses vom verlorenen Sohne“ in verschiedene Dialekte, von denen mehr als ein Drittel Ätti, Dädi, Drätti oder Att für ‚Vater‘ ausweist. Die suffigierten Formen, die eher, aber nicht ausschliesslich für die südliche, höchstalemannische Deutschschweiz belegt sind, zeigen ausnahmslos maskulines Genus (cf. Tabelle 2).
Weiterer Aufschluss zur onymischen Genuszuweisung ergibt sich nun aus den – zeitlich um ein Jahrhundert jünger anzusetzenden – Materialien zu den Verwandtschaftsnamen im Sprachatlas der deutschen Schweiz (cf. SDS IV: 119–120).
Im höchstalemannischen Berner Oberland können die modifizierten ‚Vater‘-Namen – neben Eti/Ati auch Fati – nun an einigen Ortspunkten neutrales Genus auslösen.37
Wie Tabelle 3 zeigt, kann bei den mit -. modifizierten ‚Vater‘-Namen das neutrale Genus kategorisch oder variabel vorkommen. Gleichermassen sind in den aktuellen Daten aus der Online-Umfrage neutrale Dädi/Däti oder Vati für Adelboden (BE), Aeschi (BE), Reichenbach (BE) und Engelberg (UW) ausgewiesen. Diesen Befunden stehen Stalders Belege gegenüber, die teilweise aus derselben Gegend stammen (cf. Tabelle 2), jedoch ausnahmslos maskulines Genus zeigen.
Da ein neutraler ‚Vater‘-Name schon für den Beginn des 19. Jahrhunderts belegt werden kann, wird das neutrale Genus, wie es sich in den SDS-Daten und der aktuellen Umfrage zeigt, nicht als Neuerung aufgefasst. Vielmehr wird hier für die Diskrepanz in der Genuszuweisung, die sich nun bei Ätti im „Gleichnis vom verlorenen Sohne“ – mit maskulinem Genus und in den jüngeren Belegen – mit neutralem Genus – an einigen Orten ergibt, folgende Erklärung vorgeschlagen: Die -i-Endung ist bei den Verwandtschaftsnamen (gleichermassen wie bei den Rufnamen) zu einem üblichen Suffix geworden, so dass sich deren hypokoristische Funktion abgeschwächt hat und deren Gebrauch zunehmend über den Nähekontext hinaus möglich wird. Der Gebrauch des neutralen Genus für einen männlichen Namen dagegen, der mit der Genus-Sexus-Konkordanz bricht, ist in einer weiteren Öffentlichkeit störend, da er die männliche Referenzperson deagentiviert.38 Die vereinzelten ‚Vater‘-Neutra im Berner Oberland, die sich auch in aktuellen Daten der Online-Umfrage noch finden, verdanken sich dem Schutz der innerfamilialen Kommunikation, wo das ansonsten deagentivierende Neutrum eher verzärtlichend wirkt (cf. zur Rezeption männlicher Neutra auch Beleg 6). Die Genusnivellierung in Beleg (13) – Mamali und Papali sind Neutra – betrifft kosende Benennungen (ausschliesslich) zwischen Eheleuten,39 einer Nähe-Konstellation, in der Gender nachweislich an Relevanz verliert (cf. Nübling 2014b).
Die ‚Vater‘-Neutra werden als Belege für ein ‚Refugium‘ betrachtet, das die neutrale Genuszuweisung und damit das morphologische KLP bei männlichen Referenzpersonen (noch?) erlaubt. Dass im Berner Oberland Männernamen wie ds Köbi oder ds Hämi als „Namensnennungen im zärtlichen Sinne“ (Marti 1985: 81) vorkommen können – also offensichtlich koexistieren mit „nicht-zärtlichen“ Maskulina – unterstützt die These, wonach männliche Neutra sich schlecht mit Distanz-Kontexten vertragen und das GSP in die Wege leiten.40 Nicht ausgeschlossen ist, dass die neutrale Genuszuweisung bei modifizierten männlichen Rufoder Verwandtschaftsnamen eine derivative Option darstellt(e), mit der nicht nur punktuell bestimmte Charakteristika der Referenzperson herausgestellt werden können (cf. „s plaagete Hansly“), sondern mit der in einem Nähekontext bestimmte situativ positive Bedeutungsaspekte kodiert werden konnten und weiterhin können.
Die Ostschweizer Mami-Belege, die fast ausschliesslich und invariabel neutrales Genus zeigen und erst seit kurzem zugunsten von genus-sexus-konkordanten Feminina einzubrechen scheinen, sind gemäss der aktuellen Befragung die einzigen verbliebenen weiblichen Neutra in dieser Region. Dieselbe Erklärung greift für deren Existenz und Resistenz: Auch bei den weiblichen Rufnamen stören – unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen – die Genus-Sexus-Diskonkordanz zunehmend, nicht aber die Namen auf -i, die sich durch gängige Kurzformen aktueller Namen (z. B. Jessi .< Jessica], Conni .< Cornelia]) etablieren können. Schon die veraltete feminine Bezeichnung d Fräuli (‚Lehrerin‘, Fischer 1960: 205; Bossard 1962: 53) macht offenkundig, dass zur Bezeichnung einer öffentlichen Respektsperson das Neutrum auch beim Bezug auf Frauen als unpassend empfunden und mit dem sonst etablierten KLP gebrochen wurde.41 Bei Namen, die nicht über die Familie hinaus verwendet werden, hier bei ‚Mutter‘-Namen, ist die Deagentivierung dagegen weniger problematisch. Die Familie erweist sich damit auch bei den weiblichen Verwandtschaftsnamen als letzte, aber nicht mehr ganz unangefochtene Bastion des KLP. Neuerdings erwächst dem neutralen Mami in gewissen Kreisen nämlich doch auch Widerstand, wie ein Artikel aus dem „Mama-Blog“ des Tages-Anzeigers (März 2018) zeigt, der eine Diskussion mit 146 Online-Kommentaren nach sich zog. Im Artikel kritisiert die Journalistin gerade die Deagentivierung, die mit der Anrede einhergeht: „So kuschelig sich „das Mami“ wohl für viele Schweizer Ohren anhört, da schwingen doch – neben selbstloser Liebe für die Kinder – auch ein Teilverlust von eigener Identität und ein umfassender Verzicht auf Autonomie und Autorität mit“ (Oertli 2018).
6 Ausblick: Genuszuweisende Suffixe als Steigbügelhalter für weitere GenusSexus-Diskordanzen?
Der morphologische Ausgangspunkt für die Deutschschweizer onymischen Neutra hat sich in den uns zugänglichen Daten bestätigt. Der grammatische Kollateraleffekt des Suffixes, nämlich der Bruch der Genus-Sexus-Konkordanz, scheint bei weiblichen Referenzpersonen insgesamt für passender empfunden zu werden und sich mit entsprechenden weiblichen Genderkonzepten zu vertragen, während dies bei männlichen Referenzpersonen weniger der Fall ist. Eine Ausnahme bilden hier die Verhältnisse im Höchstalemannischen, wo das KLP auch bei Männernamen greift, onymisches Neutrum aber nur am Rande auf männliche Vollformen überzuspringen vermag.
Weitere Genus-Sexus-Diskordanzen – feminine Männernamen und maskuline Frauennamen – konnten quasi als unerwarteter ‚Beifang‘ aus den Daten zu den onymischen Neutra gefischt werden. Diese Fälle von „gender reversal“ (Aikhenvald 2016: 99) lassen die Frage aufkommen, ob die Suffixe als genuszuweisende Köpfe allenfalls nur die benötigten morphologischen Steigbügelhalter sind, um das eigentlich angestrebte Ziel, nämlich eine Devianz vom gängigen GSP und die durch diesen Verstoss erzeugte Bedeutung, zu erreichen.
6.1 Feminine Männernamen
Im oberen Freiburger Sensebezirk können – oder konnten – männliche Rufnamen mit -la oder -a modifiziert werden. Das Suffix -a macht die Rufnamen auf der Ausdrucksseite der Klasse der häufigen schwachen Feminina ähnlich (Schtubaf. ‚Stube’)42; das Suffix -la43 wird als onymisches „Vergröberungs-Suffix“ genutzt, „von dem im burschikosen Sprachleben viel Gebrauch gemacht wird“ (Marti 1985: 199). Sowohl -a als auch -la gehen in der Regel mit femininem Genus einher. Dieses Genus wird nun am onymischen Artikel greifbar, der bei nicht-modifizierten maskulinen Männernamen in dieser Region eher nicht verwendet wird, d. h. es scheint gerade im Vordergrund zu stehen, das sexusdiskordante Genus prominent zu artikulieren, was überdies auch bei den neutralen Männernamen im Berner Oberland der Fall ist (cf. Kapitel 5.3). Allerdings greift das sexus-diskordante Genus nicht bis zu den Pronomen aus, d. h. der Verstoss bleibt auf die Nominalgruppe beschränkt, was die männlichen Feminina – im Unterschied zu den weiblichen (und gegebenenfalls männlichen) Namen-Neutra – als weniger verfestigt annehmen lässt. Oder aber „gender reversal“ verbietet sich überhaupt an den ‚semantischeren‘ Pronomen – insbesondere für den Bezug auf geschlechtsreife Menschen.44
In ihrer Masterarbeit kann Mathys (unveröff. 2017) nachweisen, dass am Untersuchungsort Plaffeien bis auf einen Befragten alle bei den vorgegebenen Namen Peterla (< Peter), Phippa (< Philipp), Hänsa (< Hans), Mäxla (< Max) einen femininen Artikel zuweisen, während die pronominale Wiederaufnahme strikt mit Maskulina erfolgt. Auf die Frage nach dem Gebrauch der -a/-la-Männernamen zeigt sich, dass die Befragten ältere Männer (mit den Namen Pöila [< Paul], Fixa [< Felix], Hänsa [< Hans], Seppla .< Josef]) kennen, denen gewohnheitsmässig ein derartig modifizierter Name zukommt. Junge Männer jedoch würden eher Peti oder Petu genannt als Peta oder Peterla.45 Die metasprachlichen Kommentare offenbaren, dass die -a/-la-Namen nicht mehr geläufig sind und als veralteter Sprachgebrauch gelten. Dass diese Namenformen laut diesen Kommentaren nur noch zu Spott und Scherz gebraucht würden (zu „jocular effects“ cf. Aikhenvald 2016: 100–102), könnte dabei auch dem Sachverhalt geschuldet sein, dass es sich um einen Sprachgebrauch handelt, der nur noch in der – eher negativ bewerteten – Abgeschiedenheit des Oberlandes vermutet wird (cf. „[Wenn man über] son as tüpisches Oberlender Püürli46 spottet, de siit mù ‚Uuh d Hänsùs Hänsa‘“ [Mathys 2017: 97]). Der spöttische Ton, der mit den männlichen Feminina angeschlagen wird, scheint jedenfalls eine Nähe-Beziehung vorauszusetzen und sich – wie schon die weiblichen Neutra – kaum für den Gebrauch in einer grösseren Öffentlichkeit zu eignen resp. dort ins Pejorative zu kippen.47 Diese Effekte, die sich hier im Freiburgerdeutschen beim „gender reversal“ zeigen, kann Aikhenvald (2016: 108) ebenfalls in ein und derselben Sprache feststellen, nämlich in der äthiosemitischen Sprache Amharisch, wo mit männlichen Feminina „pejorative and insulting“ einerseits und „endearment und solidarity“ andererseits einhergeht.
6.2 Maskuline Frauennamen
In der Online-Umfrage werden aus den Räumen Zürich und Schwyz maskuline Frauennamen berichtet: de Rägel (< Regula), de Bärbel (< Barbara). Das Suffix -el ist die maskuline Entsprechung zu -la und wie dieses als altes Diminutivsuffix (ahd. -ilo) nur mehr als onymisches Vergröberungssuffix in Gebrauch. Eine Nacherhebung in Muotathal hat ergeben, dass es möglich ist, Frauen mit maskulinen Namen auf -el zu benennen, nach Aussage der Befragten, um seinen Unmut oder Ärger über eine Person auszudrücken (cf. auch Baumgartner i. Vorb.):
(15) Befragung der Probanden W40–49, W70–79 und M50–55 in Muotathal (SZ)48
01 W40-49: aber DUU säisch ere nur maRINGgel49 02 M50-59: ja ja (.) <<lacht>>
03 W70-79: aber SUSCHT säit me re maRIIa; 04 W40-49: ä nu wil si usinnig GÄÄre hesch;
Die Genus-Sexus-Diskordanz, die durch das bei Männernamen übliche -el-Suffix ausgelöst wird, führt durch die Verschiebung in die ‚belebteste‘ Genusklasse nicht etwa zu einer Aufwertung, sondern zu einer Pejorisierung. Mit diesen Maskulina werden missliebige, eher burschikose und zu agentive Frauen bedacht – in den Worten von Aikhenvald (2016: 109), die von ähnlichen Effekten (in den Sprachen Manambu, Aït Mguild und Aït Wirra) berichtet:
„downgrading a woman as if she were too bossy and ‚too big for her boots‘“.
Wie bei den männlichen Feminina beschränkt sich das ‚falsche‘ Genus auf den Artikel (cf. in Beleg 15 die anaphorischen femininen Pronomen rè ‚ihr‘ [Z. 03] und si ‚sie‘ [Z. 04] sowie Fussnote 44). Die ‚semantischeren‘ Anaphorika bleiben auch hier vom „gender reversal“ verschont.50
6.3 Bilanz
Für die These, dass die onymische Wortbildung, die diskordantes Genus auslöst, nur Mittel zum Zweck sei, spricht – neben der obligatorischen Artikelsetzung – der Sachverhalt, dass es durchaus genus-sexus-konkordante Suffixe geben würde, die heutzutage Spott und Burschikosität kodieren könnten, nämlich für die Männernamen das maskuline -el (< ahd. -ilo) und für die Frauennamen das feminine -le (< ahd. -ila).51 Da diese onymischen Suffixe aber ‚übers Kreuz‘ verwendet werden, durchkreuzen sie – zusätzlich – das bei Personenbezeichnungen etablierte GSP. Die ‚falschen‘ Genera stehen quasi ikonisch für ‚falsches‘ Genderverhalten und entfalten vor dem Hintergrund zeitbedingter Genderkonzepte unterschiedliche Bedeutungen, die die bezeichnete Person oder die Beziehung der Sprechinstanz zur bezeichneten Person evaluieren.
Im Falle der maskulinen Frauennamen kommt eine Abwertung ins Spiel, die aus der Einschreibung in das ‚falsche‘ soziale Geschlecht resultiert und womit nicht rollenkonforme Frauen bedacht werden. Die maskulinen -el-Frauennamen gehören zu den Möglichkeiten onymischer Wortbildung und kommen bei entsprechenden kommunikativen Bedürfnissen ins Spiel. Dies schliesst die Möglichkeit nicht aus, dass es – wie einzelne Gewährspersonen berichten – im Kanton Schwyz früher Familien gegeben haben soll, bei denen die Mädchen systematisch und durchaus in liebevoller Absicht mit den -el-Maskulina bedacht worden seien (cf. zu „endearment and solidarity“ als Effekte bei maskulinen Frauenbezeichnungen Aikhenvald 2016: 109).
Bei den femininen Männernamen erzeugt das ‚falsche‘ Geschlecht leichten Spott, der nur in einem bestimmten Kontext zulässig resp. nicht degradierend ist. Feminine Männernamen, die durch onymische Wortbildung ausgelöst werden, scheinen sich allerdings bei einigen älteren Namenträgern verfestigt zu haben und zum üblichen Rufnamen geworden zu sein (cf. Fussnote 45). Im Unterschied zu den maskulinen Frauennamen scheinen die femininen Männernamen relativ gebräuchlich (gewesen) zu sein, was dafür spricht, dass der Spott, der durch die Genus-Sexus-Diskordanz erzeugt wird, ursprünglich eher als liebevolle Neckerei intendiert war resp. ist. Auch bei diesem „gender reversal“ ist also – unter bestimmten soziosituativen Bedingungen – mit dem Effekt von „endearment and solidarity“ (Aikhenvald 2016: 108) zu rechnen.52
Die Neutra weisen aus der Perspektive des GSP nicht einfach das ,falsche‘ Geschlecht zu, sondern sie blenden Geschlecht gewissermassen aus. Besteht eine Nähebeziehung, so können weibliche, aber durchaus auch männliche Neutra unverfänglich und erwünscht sein, wie dies die Verhältnisse im Höchstalemannischen oder die Handhabung von Verwandtschaftsnamen zeigen. Dass die Verfestigungen der onymischen Neutra nun vornehmlich bei Frauennamen eintreten und dort auch nicht länger von einem genusauslösenden Suffix abhängig waren resp. sind, zeigt, dass sich die Bedeutungsaspekte des neutralen Genus gut mit zeitbedingten weiblichen Genderkonzepten und der familialen ‚Innenorientierung‘ der traditionellen Frauenrolle vertrugen resp. vertragen. Männliche Genderkonzepte und die ‚Aussenorientierung‘ der traditionellen Männerrolle scheinen demgegenüber mit dem Neutrum schlechter vereinbar gewesen zu sein und im Schweizer Mittelland schon immer dafür gesorgt zu haben, dass dort in der Regel bei männlichen Rufnamen das GSP zum Tragen kam und das Neutrum allenfalls kommunikativen Sonderbedürfnissen vorbehalten blieb.
Dass auch bei den diminuierten Namen, die hier als Auslöser der onymischen Neutra geltend gemacht werden, die Begleiterscheinung der Genus-Sexus-Devianz ursprünglich im Vordergrund gestanden haben könnte, deutet sich im Umstand an, dass zur onymischen Diminution vorrangig jene Suffixe, nämlich -. und -li, genutzt wurden, die neutrales Genus befördern. Es hätte ja die Möglichkeit bestanden, onymische Diminutive mit -el resp. -le zu bilden, die mit sexus-konkordantem maskulinem resp. femininem Genus einhergehen. Da tragfähige Untersuchungen zur historischen Wortbildung noch ausstehen, muss dieser Gesichtspunkt als eine vorläufige These offenbleiben.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
20 Minuten (2019): Model merkte nicht, dass es schwanger ist. 14. November 2019. 20min. ch/people/international/story/Model-merkte-nicht--dass-es-schwanger-ist-26892630 [17.11.2019].
Anderau, Alfred (1962): Ob i lach oder sing. Volkslieder aus der deutschen Schweiz. Zürich: Musikverlag zum Pelikan.
Diggelmann, Peter (2019): „‚De Rägel und de Bärbel‘ in Zürich“. In: Sprachspiegel 75, 2/19: 58.
Gotthelf, Jeremias (1837): Der Bauern-Spiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf, von ihm selbst beschrieben. Roman. Zitiert nach: Der Volks-Gotthelf in 17 Bänden (1955). Zürich: E. Rentsch.
Gotthelf, Jeremias (1843/44): Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht. Roman. Zitiert nach: Der Volks-Gotthelf in 17 Bänden (1955). Zürich: E. Rentsch.
Hebel, Johann Peter (1803): Allemannische Gedichte. Karlsruhe: Macklot.
Hilty-Kunz, David (1877): Hans und Beti oder der Werdenberger Freiheitsmorgen 1798. Vaterländisches Drama. Buchs SG: Buchdruck Kuhn.
Keller, Gottfried (1873–1875): Die Leute von Seldwyla. 2 Zyklen von insgesamt 10 Novellen. Zitiert nach: Gottfried Kellers Werke im Diogenes Verlag (1978). Zürcher Ausgabe. Band I, II. Zürich: Diogenes.
Manuel, Hans Rudolf (1548): Weinspiel. Komödie. Zitiert nach: Haas, Walter/Stern, Martin (eds.) (1989): Fünf Komödien des 16. Jahrhunderts. Bern: Haupt.
Oertli, Mirjam (2018): „Sprachlich sterilisiert: „Das Mami““. In: Mama-Blog. TagesAnzeiger, 1. März 2018. blog.tagesanzeiger.ch/mamablog/index.php/76710/sprachlich-sterilisiert-das-mami/ [11.09.2019].
Peter, Rita (s. a.): Wo isch ächt au de Röbeli? unveröff. s. l.
Pfister, Jessica (2018): „Zu Besuch in Ulrich Giezendanners Liebes-Paradiso“. 19. August 2018. Schweizer Illustrierte, schweizer-illustrierte.ch/stars/schweiz/daheim-bei-ulrich-undroberta-giezendanner [24.4.2020].
Todesanzeigenportal Schweiz (2019): Todesanzeige. todesanzeigenportal.ch [22.07.2019]. Wittenwiler, Heinrich (ca. 1408/10): Ring. Satirisches Lehrgedicht. Zitiert nach: hsaugsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/15Jh/Wittenwiler/wit_rin0.html [12.09.19].
Sekundärliteratur
Aikhenvald, Alexandra Y. (2016): How Gender Shapes the World. Oxford: Oxford University Press.
Baumgartner, Gerda/Christen, Helen (2017): „Dr Hansjakobli und ds Babettli – Über die Geschlechtstypik diminuierter Rufnamen in der Deutschschweiz“. In: Reisigl, Martin/Spieß, Constanze (eds.): Sprache und Geschlecht. Band 2. Duisburg, Universitätsverlag RheinRuhr: 111–145 (= Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 91).
Baumgartner, Gerda (2019): „S Doris in däm wisse Fätze. Das Neutrum als affektives Genus im Namengebrauch der Deutschschweiz“. In: Linguistik Online 98, 5/19: 137–156. doi: 10.13092/lo.98.5933 [9.2.2021].
Baumgartner, Gerda (i. Vorb.): Ääs isch es Liebs. Neutrum und Beziehung im Schweizerdeutschen. Dissertation. Universität Freiburg i. Ü.
Biały, Paulina (2013): „On the priority of connotative over denotative meanings in Polish diminutives“. In: Studies in Polish Linguistics 8/1: 1–13.
Bösiger, Melanie (in diesem Band): „Der onymische Artikel im Schweizerdeutschen in seiner Funktion als Genusmarker“.
Bossard, Hans (1962): Zuger Mundartbuch. Grammatik und Wörterverzeichnisse. Unter Mitwirkung von Dr. Peter Dalcher. Zürich: Schweizer Spiegel-Verlag.
Busley, Simone (2019): Frauen im Neutrum. Empirische Studien zu mittelund niederdeutschen Dialekten.Johannes Gutenberg-Universität Mainz: Unveröffentlichte Dissertation.
Busley, Simone/Fritzinger, Julia (in diesem Band): „Neutrales Rufnamengenus zwischen Grammatik und Pragmatik“.
Christen, Helen (1998): „Die Mutti oder das Mutti, die Rita oder das Rita? Über Besonderheiten der Genuszuweisung bei Personenund Verwandtschaftsnamen in schweizerdeutschen Dialekten“. In: Schnyder, André et al. (eds.): „Ist mir getroumet mîn leben“? Vom Träumen und vom Anderssein. Göppingen, Kümmerle Verlag: 267–281.
Christen, Helen (2006): Comutter, Papi und Lebensabschnittsgefährte. Untersuchungen zum Sprachgebrauch im Kontext heutiger Formen des Zusammenlebens. Mit einem Beitrag von Ingrid Hove. Hildesheim: G. Olms (= Germanistische Linguistik Monographien 20).
Corbett, Greville G. (1991): Gender. Cambridge: Cambridge University Press.
Dammel, Antje (in diesem Band): „Evaluative Wortbildung und Personenreferenz. Maskulina auf -i und ihre femininen Entsprechungen in alemannischen Dialekten – auch als Indikator für Geschlechterstereotype im Wörterbuch“.
Der sprechende Atlas. Plattentext in verschiedenen schweizerdeutschen Dialekten (1952). Phonogrammarchiv der Universität Zürich (ed.). Zürich: Verlag Phonogrammarchiv der Universität Zürich.
Dreyfus, Jonas (2019): Sina im Exklusiv-Interview. „Ich bin die, die mit den Frauen tanzt“. 15. Januar 2019. blick.ch/life/freizeit/sina-im-exklusiv-interview-ich-bin-die-die-mit-denfrauen-tanzt-id15109503.html [29.8.2019].
Dressler, Wolfgang U./Barbaresi, Lavinia Merlini (2001): „Morphopragmatics of diminutives and augmentatives: on the priority of pragmatics over semantics“. In: Kenesei, István/Harnish, Robert M. (eds.): Perspectives on Semantics, Pragmatics, and Discourse. Amsterdam, John Benjamins: 43–58.
Duden (2016): Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. 9. Auflage. Herausgegeben von Angelika Wöllstein und der Dudenredaktion. Berlin: Duden-Verlag.
Fischer, Ludwig (1960): Luzerndeutsche Grammatik. Zürich: Schweizer Spiegelverlag.
Fleischer, Jürg (2012): „Grammatische und semantische Kongruenz in der Geschichte des Deutschen: Eine diachrone Studie zu den Kongruenzformen von ahd. wīb, nhd. Weib“. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 134 (2). Berlin etc., De Gruyter: 163–203.
Hausen, Karin (1976): „Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsund Familienleben“. In: Conze, Werner (ed.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart, Klett: 363–393.
Henzen, Walter (1927): Die deutsche Freiburger Mundart im Senseund südöstlichen Seebezirk. Frauenfeld: Huber.
Henzen, Walter (1957): Deutsche Wortbildung. 2. verbesserte Auflage. Tübingen: Niemeyer.
Hodler, Werner O. F. (1911): Beiträge zur Wortbildung und Wortbedeutung im Berndeutschen. Bern: Universität Bern.
Hodler, Werner (1969): Berndeutsche Syntax. Bern: Francke.
Jurafsky, Daniel (1996): „Universal tendencies in the semantic of the diminutive“. Language 72/3: 533–578.
Klein, Andreas/Nübling, Damaris (2019): „Was ist es mit diesem grammatisch ungeheuerlichen „ihns“? Zu Form und Funktion von alem. ääs, ihns und lux. hatt.. Linguistik Online 98, 5/19: 51–76. doi: 10.13092/lo.98.5929 [9.2.2021].
Klein, Thomas/Solms, Hans-Joachim/Wegera, Klaus-Peter (2009): Mittelhochdeutsche Grammatik. Teil III: Wortbildung. Tübingen: Niemeyer.
Köpcke, Klaus-Michael/Zubin, David (1984): „Sechs Prinzipien für die Genuszuweisung im Deutschen: Ein Beitrag zur natürlichen Klassifikation“. Linguistische Berichte 93: 26–50.
Köpcke, Klaus-Michael/Zubin, David (2003): „Metonymic pathways to neuter-gender human nominals in German“. In: Panther, Klaus-Uwe/Thornberg, L. (eds.): Metonymy and Pragmatic Inferencing. Amsterdam/Philadelphia, John Benjamins: 149–166.
Kotthoff, Helga/Nübling, Damaris (2018): Genderlinguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen: Narr.
Krifka, Manfred (2009): „Case syncretism in German feminines. Typological, functional and structural aspects“. In: Steinkrüger, Patrick/Krifka, Manfred (eds.): On inflection. Berlin, Mouton de Gruyter: 141–171.
Kunze, Konrad (2003: dtv-Atlas Namenkunde. 4. Auflage. München: Deutscher Taschenbuchverlag.
Lameli, Alfred (2018): „Zur Diminuierung männlicher und weiblicher Verwandtschaftsbezeichnungen in der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen“. In: Czajkowski, Luise et al. (eds.): Sprachwandel im Deutschen. Berlin, De Gruyter: 3–18.
Marti, Werner (1985): Berndeutsch-Grammatik für die heutige Mundart zwischen Thun und Jura. Bern: Francke.
Mathys, Nadine (2017): Der Einflussfaktor Alter beim Gebrauch von Neutra bei weiblichen Rufnamen. Das Beispiel Senslerdeutsch. Universität Freiburg i. Ü.: Unveröff. Masterarbeit.
Mladenova, Olga M. (2001): „Neuter Designations of Humans and Norms of Social Interaction in the Balkans“. Anthropological Linguistics 43,1: 18–53.
Nübling, Damaris (2014a): „Das Merkel – Das Neutrum bei weiblichen Familiennamen als derogatives Genus?“ In: Debus, Friedhelm/Heuser, Rita/Nübling, Damaris (eds.): Linguistik der Familiennamen. Hildesheim, Olms: 205–232.
Nübling, Damaris (2014b): „Emotionalität in Namen. Spitznamen, Kosenamen, Spottnamen – und ihr gender-nivellierender Effekt“. In: Vaňková, Lenka et al. (eds.): Emotionalität im Text. Tübingen, Stauffenburg: 103–122.
Nübling, Damaris (2019): „Geschlechter(un)ordnung“. In: Eichinger, Ludwig M./Plewnia, Albrecht (eds.): Neues vom heutigen Deutsch. Berlin/Boston, De Gruyter: 19–58.
Nübling, Damaris/Busley, Simone/Drenda, Juliane (2013): „Dat Anna und s Eva – Neutrale Frauenrufnamen in deutschen Dialekten und im Luxemburgischen zwischen pragmatischer und semantischer Genuszuweisung“. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 80 (2): 152–196.
Repp, Hanna (1996): „Der Genustausch in der Kindersprache des Arabischen und das Komplementärwesen „Qarina“ – Konzepte des Volksglaubens zur Erklärung eines sprachlichen Phänomens“. Zeitschrift für Arabische Linguistik 32: 25–56.
Schläpfer, Martina (i. Vorb.): Neutrale Männernamen in der Deutschschweiz (Arbeitstitel). Universität Freiburg i. Ü.: Dissertation.
Schmuck, Mirjam/Szczepaniak, Renata (2014): „Der Gebrauch des Definitartikels vor Familienund Rufnamen im Frühneuhochdeutschen aus grammatikalisierungstheoretischer Perspektive“. In: Debus, Friedhelm/Heuser, Rita/Nübling, Damaris (eds.): Linguistik der Familiennamen. Hildesheim, Olms: 97–137.
Schweden, Theresa (in diesem Band): s (Bachmanns) Anna. Die Rolle der Herkunftsfamilie in Referenz und Namengebung in dörflichen Kommunikationsgemeinschaften.
Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache (1881). Frauenfeld: J. Huber.
Schweizer Textkorpus. chtk.ch/index.php/de/ [28. August 2019].
Seebold, Elmar (1983): „Diminutivformen in den deutschen Dialekten“. In: Besch, Werner et al. (eds.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Berlin etc., De Gruyter: 1250–1255. (= Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft 1.2).
Sprachatlas der deutschen Schweiz (1962-1998). Bern: Francke.
Stalder, Franz Joseph (1819): Die Landessprachen der Schweiz oder Schweizerische Dialektologie. Aarau: Sauerländer.
Stalder, Franz Joseph (1994 [1831]): Schweizerisches Idiotikon. Herausgegeben von Niklaus Bigler. Aarau: Sauerländer.
Stricker, Stefanie (2000): Substantivbildung durch Suffixableitung um 1800. Untersucht an Personenbezeichnungen in der Sprache Goethes. Heidelberg: Winter.
Stucki, Karl (1917): Die Mundart von Jaun im Kanton Freiburg. Frauenfeld: Huber. Weber, Albert (1987): Zürichdeutsche Grammatik. 3. Auflage. Zürich: Rohr.
Wipf, Elisa (1910): Die Mundart von Visperterminen. Frauenfeld: Huber.
Zürrer, Peter (in diesem Band): „Genuszuweisung bei der Pronominalisierung von Personen in den Südwalser Dialekten“.
Notes