Artikel/Articles

Zentrum und Peripherie in der deutschen Syntax. Das Beispiel der Satzarten des Deutschen

Anton Näf
Université de Neuchâtel, Suiza

Zentrum und Peripherie in der deutschen Syntax. Das Beispiel der Satzarten des Deutschen

Linguistik online, vol. 108, núm. 3, pp. 67-114, 2021

Universität Bern

Abstract: In Linguistik online 2021, I presented a four-level centre-periphery model of German syntax (with the categories “prototype”, “variants”, “competitive forms” and “free stylistic variation”) and tested and refined it on the basis of two well-researched grammatical phenomena, conditionality and passive structures. In the present paper, this model is applied to the sentence types of German, with comparative side glances at English and French. The model proves to be particularly fruitful in the functional area of exclamation, where a great variety of forms can be observed. I argue here that scientific grammars should not only record the form inventory of sentence types but should supplement this with information on their frequency of occurrence, especially with key figures on the relative proportions of the individual structures in their functional field of competition, broken down by different communicative situations or text types. The motto for the grammar writing of the future should be: From the “structures” to the “structures in use”.

1 Einleitung

Der vorliegende Aufsatz ist der zweite Teil einer grösseren Abhandlung, in welcher der Versuch unternommen wird, das Zentrum-Peripherie-Modell auf die Syntax des Deutschen anzuwenden. Im ersten Teil (erschienen in Linguistik online 106/1: 115–147) wurde das hier zugrunde gelegte theoretische Modell der sprachlichen Variation ausführlich vorgestellt und an zwei gut erforschten Grammatikfeldern erprobt und verfeinert, nämlich der Konditionalität und den Passivstrukturen. Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die wohlbekannte Tatsache, dass eine funktional definierte Variable durch zwei oder mehr Realisierungsformen (Varianten) ausgedrückt werden kann.

Die aus der kognitiven Psychologie stammende Prototypentheoriehat schon seit längerem auch in der Linguistik einen gewissen Widerhall gefunden (Blank 2001; Panther/Köpcke 2008). Allerdings eher in Form von Beiträgen spekulativ-theoretischer Natur, sodass zu Recht die „ausserordentliche Theorielastigkeit“ (Schmid 2000: 34) der bisherigen linguistischen Prototypenforschung beklagt wurde. Um etwas festeren Boden unter den Füssen zu bekommen, haben wir unseren theoretischen Ausführungen in Linguistik online 2021 ein Kleinkorpus zugrunde gelegt, nämlich das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Stand 2018), dessen Befund für die beiden Untersuchungsfelder exhaustiv erhoben wurde. Dabei hat sich die Vermutung bewahrheitet, dass die beiden ausgewählten Phänomene in dieser Textsorte besonders gut vertreten sind. Da uns eine Dichotomie Prototyp vs. Varianten als Analyseinstrument zu wenig differenziert erschien, um das vorgefundene Spektrum an sprachlichen Fakten adäquat abbilden zu können, haben wir uns für ein abgestuftes Zentrum-Peripherie-Modell entschieden, das die vier Kategorien Prototyp, Varianten, Konkurrenzformen und freie stilistische Variation umfasst. Für eine ausführliche Besprechung der Begrifflichkeit sei auf den Beitrag in Linguistik online (2021) verwiesen. Hier in aller Kürze nur dies: Als Prototyp deklariert wird eine besonders typische, ohne Restriktionen verwendbare Struktur, die in der Regel auch die frequenteste ist. Als Varianten werden hier Konstruktionen bezeichnet, die sich strukturell nur wenig von der Referenzform entfernen und ähnlich frei verfügbar sind wie diese. Konkurrenzformen drücken zwar ebenfalls grosso modo den gleichen Inhalt aus wie der Prototyp, sind aber von ihrer Form her als weniger typische Vertreter zu taxieren und in höherem Masse syntaktischen und semantischen Restriktionen unterworfen. Unter der Kategorie freie stilistische Variation schliesslich haben wir Bildungen vereinigt, die auf einer hohen Abstraktionsebene zwar immer noch die gleiche Hauptidee ausdrücken wie der Prototyp. Der Abstand der Formulierungen zu diesem ist aber so gross, dass sie in den Grammatiken in der Regel nicht als Alternative zu diesem aufgeführt werden. Ein Beispiel für eine Klassifizierung nach diesem Modell: Auf der Grundlage der Ergebnisse der empirischen Analyse der Konditionalität im Grundgesetz (insgesamt 161 Belege) erklärten wir den mit 45% der Belege vertretenen wenn-Satz zum Prototyp (Wenn dieser Verdacht zutrifft,…), während die Verb-Erst-Struktur (Sollte dieser Verdacht zutreffen) mit einem Anteil von 38% als Variante aufgefasst und die deutlich weniger zentrale bei-Präpositionalgruppe (bei Zutreffen dieses Verdachts) mit einem Anteil von 17% den Konkurrenzformen zugeordnet wurde.

Bevor wir zur Präsentation der Ergebnisse unserer Korpusanalysen übergehen, soll nun zunächst die Wahl des Korpus begründet (1.1), die anvisierte Abstraktionsebene geklärt (1.2) sowie die hier zugrunde gelegte Fünfer-Typologie der Satzarten (1.3) vorgestellt werden. Mit einigen Überlegungen und Fakten zur Unterscheidung von Hauptund Nebentypen bei den Satzarten (1.4) sowie zu deren relativer Frequenz im Deutschen und im Englischen (1.5) beschliessen wir die Einleitung.

1.1 Korpus: Roman Der Hals der Giraffe

In diesem Beitrag soll nun aufgezeigt werden, dass sich das Konzept von Zentrum und Peripherie mit Gewinn auch auf das theoretische Konstrukt Satzart anwenden lässt. Auch hier soll dies jedoch wiederum nicht bloss theoretisch postuliert, sondern gestützt auf empirisch erhobene Daten und Verteilungsprofile argumentativ untermauert werden. Für die Untersuchung der Konditionalität und der Passivstrukturen hatten wir das Grundgesetzals Korpus herangezogen. Für das Thema Satzarten erweist sich die Textsorte Gesetzestexte aber als völlig unergiebig, weshalb wir hier einen Korpuswechsel vornehmen müssen. Schon beim Spektrum der im Grundgesetz auftretenden Nebensätze zeigt sich ein sehr spezielles Verteilungsbild, das so vermutlich in keiner anderen Textsorte zu beobachten ist. Es dominieren hier nämlich die Konditionalsätze, während etwa temporale und kausale Nebensätze extrem selten auftreten. Es geht im Grundgesetz eben nicht um die zeitliche Einbettung oder die Begründung von Sachverhalten, sondern um die Formulierung von Voraussetzungen und Einschränkungen der Gültigkeit von Rechtsnormen. Noch viel auffälliger ist der Befund aber bei den Hauptsätzen, wo sich das Grundgesetz als ausgesprochene grammatische Monokultur herausstellt. Es handelt sich nämlich bei den im Grundgesetz auftretenden Hauptsätzen – und das Gleiche trifft auch für die Schweizerische Bundesverfassung zu – samt und sonders um Deklarativsätze. Die textsortenspezifischen Distributionspräferenzen gehen aber noch viel weiter. Fast alle im Grundgesetz auftretenden Verbformen stehen im Indikativ Präsens, und zwar in der 3. Person Singular oder Plural. Pronomen und Verbformen der 1. und 2. Person finden sich hier keine.1 Neben dem Modus Indikativ als default-Wert treten ganz vereinzelt noch Konjunktiv-II-Formen auf, und bei den Tempora ist neben dem Präsens nur noch das Perfekt etwas häufiger belegt.

Das Besondere an den Deklarativsätzen in Gesetzestexten ist jedoch ihr Sprechaktwert. Auch wenn sie in der formalen Gestalt von Konstativa daherkommen: von ihrer Funktion her handelt es sich um Direktiva. In Gesetzestexten geht es nicht darum, etwas festzustellen oder einen Zustand zu beschreiben, sondern um das Setzen von Rechtsnormen. Ein Satz wie Das Amt des Bundespräsidenten dauert fünf Jahre (GG Art 54,2) oder Die Schweiz hat eine Armee (BV Art 58,1) meint nicht: ‘es ist so’, sondern ‘so soll es sein’. Die normative Kraft einer Verpflichtung oder einer Erlaubnis bekommen solche Deklarativsätze erst von der Zuständigkeit und Autorität der erlassenden Instanz sowie von der Textsorte her, in der sie auftreten.

Als empirische Datenbasis für die Untersuchung der Satzarten im geschriebenen Gegenwartsdeutsch dient uns hier der Roman Der Hals der Giraffe von Judith Schalansky (2012).2Die Protagonistin dieses „umgekehrten Bildungsromans“ ist die Biologielehrerin Inge Lohmark, und so ist dieser Text zugleich eine Art Biologie-Lektion. Das Leittempus des Romans ist das Präteritum, aber neben der dominierenden Erzählerrede findet sich etwa ein Viertel Figurenrede. Bei der Gattung Roman kann man a priori, namentlich bei den direkten Reden, ein breites Spektrum von Satzart-Realisierungen erwarten.3 In einer Forschungsphase, wo es darum geht, auf neue Phänomene aufmerksam zu werden und Hypothesen aufzustellen, etwa über die Häufigkeitsverteilung von syntaktischen Mustern in einem Text, scheint uns eine – sozusagen philologische – Handanalyse eines Kleinkorpus einer automatischen „Suche nach Belegen“ in einem Grosskorpus überlegen zu sein.

1.2 Anvisierte Abstraktionsebene

Bei der Anwendung des Zentrum-Peripherie-Modells auf die Satzarten gilt es vorerst die Frage zu klären, auf welcher Abstraktionsebene dieses Konzept eingesetzt werden soll. Lässt es sich rechtfertigen, eine der fünf unten unterschiedenen Satzarten, nämlich den Deklarativsatz, zum Prototyp zu erklären und die übrigen als Varianten von diesem aufzufassen? Ganz offensichtlich nicht. Wir haben es hier ja nicht – wie etwa bei der Konditionalität oder den Passivstrukturen – mit einer Variablen im Sinne eines Felds von funktional (mehr oder weniger) äquivalenten Ausdrucksmitteln zu tun (Lüdeling 2017). Die drei Sätzchen in Tabelle 1 drücken eben nicht „dasselbe“ aus, sondern haben ihre je eigene Grundprägung oder Konstruktionsbedeutung. Diese kann man durch Hinzufügung von einschlägigen Sprechaktverben – Siemund (2018: 71) spricht von „invisible operators“ – ins Bewusstsein heben.

Tabelle 1
Satzarten: Von der Konstruktionsbedeutung getragene Grundeinstellungen
SatzartBeispielpropositionale Grundeinstellung
DeklarativsatzEr kommt mit.← Ich glaube, dass er mitkommt
InterrogativsatzKommst du mit?← Ich möchte wissen, ob du mitkommst
ImperativsatzKomm doch mit!← Ich möchte, dass du mitkommst

Um es in der Terminologie der Sprechakttheorie und mit der Formel F(p) auszudrücken: Die drei Sätze teilen zwar miteinander den „propositionalen Gehalt“ (p), unterscheiden sich aber durch ihre „illokutive Kraft“ (F), und sie sind in konkreten Ko(n)texten im Prinzip nicht gegeneinander austauschbar. Das hindert nicht – und das aufzuzeigen ist ein Ziel unseres Beitrags –, dass sie unter bestimmten Sonderbedingungen immer wieder mal als Varianten voneinander verwendet werden können, z. B. der Interrogativsatz Wer ist schon perfekt? für den Deklarativsatz Niemand ist perfekt oder der Deklarativsatz Das solltet ihr euch merken für den Imperativsatz Merkt euch das.

Dagegen erweist sich das Zentrum-Peripherie-Modell auf der nächsttieferen Ebene, nämlich derjenigen einer bestimmten Satzart, als sinnvoll und fruchtbar. Das unten in Tabelle 2 präsentierte Konzept der propositionalen Grundeinstellung (propositional attitude) einer Satzart können wir als Variable ansehen, die durch unterschiedliche formale Ausdrucksvarianten realisiert werden kann. So lässt sich etwa der kommunikative Grundgestus „erreichen wollen, dass etwas der Fall ist“ nicht bloss durch den prototypischen Imperativsatz, sondern auch durch eine breite Palette von anderen sprachlichen Mitteln realisieren (siehe unten 4.2), z. B. Passt mal alle auf! – Ihr solltet mal alle aufpassen. – Würdet ihr mal alle aufpassen? – Alle mal aufpassen.

– Alle mal aufgepasst. Um bei den Aufforderungshandlungen zu bleiben: In der Sprechakttheorie wird versucht, den unterschiedlichen Graden der Direktheit und Explizitheit von Äusserungen durch die Unterscheidung von direkten und indirekten Sprechakten beizukommen. Durch diese Dichotomie lassen sich vor allem die beiden Extrempunkte erfassen, nämlich die direkteste, prototypische Ausdrucksform einer Bitte (Fahr bitte nicht so schnell!) und die indirekteste, die aber unter Umständen bloss in einer konkreten Situation als solche verstanden werden kann (z. B. der Deklarativsatz Du, ich habe Angst). Demgegenüber weist unser VierStufen-Modell auch den Zwischenstufen, nämlich den Varianten und Konkurrenzformen des Prototyps, einen Platz zu, z. B. dem Interrogativsatz Könntest du bitte etwas langsamer fahren? Bei den in unserem Modell am weitesten vom Prototyp entfernten Formulierungen, die wir unter der Sammelkategorie freie stilistische Variation subsumiert haben, besteht aber stets noch eine systemlinguistische Verbindung zum Prototyp, was bei den indirekten Sprechakten nicht der Fall zu sein braucht. Vielmehr muss deren Sprechaktwert im Hinblick auf eine konkrete Sprechsituation interpretiert werden. Die Strategie, statt eine Bitte zu äussern, eine Begründung für deren Existenzberechtigung (ein Problem, eine Notlage, etc.) zu nennen (wie bei Ich habe Angst), überschreitet das linguistisch im Rahmen von Synonymieund Paraphrase-Relationen Vorhersehbare und Modellierbare und ist nur unter Rückgriff auf die pragmatischen Faktoren einer konkreten Kommunikationssituation zu verstehen, wobei das jeweils Gemeinte vom Adressaten durch Inferenz aus dem Gesagten erschlossen werden muss.

Um nochmals auf den Deklarativsatz zurückzukommen. Auch wenn die anderen Satzarten nicht als dessen Varianten aufgefasst werden können, ist es aber dennoch so, dass dieser innerhalb der Satzarten eine besondere Stellung einnimmt, die bezüglich mehrerer Aspekte an die Definition des Prototyps erinnert. Erstens dominiert er von der Frequenz seines Auftretens über alle Textsorten hinweg auf erdrückende Weise. Zweitens ist er von seiner Struktur her am unauffälligsten: von der Intonation her handelt es sich sozusagen um einen „Satz in Ruhelage“, das Verb steht im Deutschen – rezipientenfreundlich – weder ganz zu Beginn noch am Ende, und bezüglich der Modi begnügt er sich mit den zwei gängigsten Kategorien, wobei der unmarkierte Indikativ bei weitem dominiert. Und was drittens die Sprechaktwerte betrifft, so weist der Deklarativsatz als der am wenigsten spezialisierte Typ das grösste Illokutionspotential auf, z. B. Feststellung, Behauptung, Bewertung, Rat, Lob, Versprechen, Erlaubnis, Aufforderung.

1.3 Die Satzarten des Deutschen: Fünfer-Typologie

In den letzten Jahrzehnten sind bei der theoretischen und – wenn auch noch etwas zögerlich – bei der empirischen Erforschung der Satzarten des Deutschen grosse Fortschritte erzielt worden. Während man früher oft von der Dreiertypologie Aussagesatz, Fragesatz, Aufforderungssatz ausging, gelangte man durch eine Überprüfung der Einteilungskriterien zur Erkenntnis, dass sich ein solches Klassifikationsschema nicht aufrechterhalten lässt. Zu dessen Verfestigung und Verbreitung hatte wohl schlicht die Existenz von drei Satzschlusszeichen, nämlich Punkt, Fragezeichen und Ausrufezeichen, beigetragen.4

Um zu einer Typologie der Satzarten zu gelangen, stützen sich die Grammatiker auf Kriterien inhaltlich-funktionaler (Sprecherabsichten) oder formaler Natur (Verbstellung, Verbmodus, Intonation, u. a.), oder aber auf beide zugleich, und entsprechend gelangen sie zu unterschiedlichen Klassifikationen. Ein entscheidender Durchbruch aus der definitorischen Sackgasse gelang Altmann (1987), als er sich explizit dafür entschied, alle Strukturen, welche die gleiche „propositionale Grundeinstellung“ ausdrücken, zu einer Gruppe zu vereinigen. Eine solche Bündelung von – funktional gegeneinander austauschbaren – formalen „Spielarten“ zu einer einzigen Variablen erlaubt es, die Zahl der anzusetzenden Strukturtypen überschaubar zu halten.

Durch Anwendung des Prinzips der „propositionalen Grundeinstellung“ gelangt man für das Deutsche zu einer Fünfer-Typologie (Altmann 1987: 23ff.; Näf 1995: 54): Deklarativsatz, Interrogativsatz, Imperativsatz, Desiderativsatz (oder: Optativsatz) und Exklamativsatz (siehe Tabelle 2). Diese Typologie wurde unterdessen auch der Darstellung der Satzarten in der DudenGrammatik (2016: 899–905) zugrunde gelegt. Eine solche Klassifizierung ist aber offenbar weit über das Deutsche hinaus von Relevanz, ohne dass es sich dabei jedoch um ein sprachliches Universale handeln würde. So kann man dem – am wenigsten markierten – Deklarativsatz die propositionale Grundeinstellung „sagen, dass etwas der Fall ist“ zuordnen, und die Struktur dieses komplexen grammatischen Zeichens lässt sich für das Deutsche durch die folgende Merkmalskombination definieren: (1) Verbzweitstellung + (2) Verbmodus Indikativ oder Konjunktiv II + (3) kein w-Wort auf der Erstposition + (4) fallende Intonation.

Tabelle 2
Die Satzarten des Deutschen und deren propositionale Grundeinstellung
Formale Strukturpropositionale GrundeinstellungPrototypisches Beispiel
1. DeklarativsatzSagen, dass etwas der Fall ist („Aussage“)Ich bin sehr aufgeregt.
2. InterrogativsatzWissen wollen, ob etwas/w(etwas) der Fall ist („Frage“)Bistdu aufgeregt?Warum bist du so aufgeregt?
3. ImperativsatzErreichen wollen, dass etwas der Fall ist („Aufforderung“)Sei doch nicht so aufgeregt!
4. DesiderativsatzWünschen, dass etwas der Fall sei/wäre/gewesen wäre (~ „Wunsch“)Wenn ich nur nicht so aufgeregt wäre!
5. ExklamativsatzMit Nachdruck sagen, dass/wie sehr etwas der Fall ist – über die Erwartung hinaus (~ „Ausruf“)Dass der so aufgeregt ist! Wie aufgeregt der ist!

In diesem Aufsatz soll im Lichte des Zentrum-Peripherie-Modells ein neuer Blick auf die Satzarten des Deutschen geworfen werden (zum Stand der Forschung zu den Satztypen des Deutschen cf. den Sammelband von Meibauer/Steinbach/Altmann 2013). Am ausführlichsten gehen wir dabei auf das weite Feld der Exklamation ein (siehe unten Kapitel 6), für das eine Gesamtstrukturierung vorgeschlagen und auf bisher noch nicht erfasste Ausdrucksformen, insbesondere die dieser-Exklamativsätze, eingegangen wird.

In der neueren Forschung ist insbesondere umstritten, ob die Satzintonation unter den Definitionskriterien figurieren soll oder nicht.5Angesichts der Schwierigkeiten ihrer Erfassung und Interpretation – fallend vs. steigend ist ja bloss eine stark vergröbernde Idealisierung – ist das verständlich. Wenn wir uns aber dafür entschieden haben, die Intonation als Kriterium mitzuberücksichtigen, dann vor allem deswegen, weil im Deutschen bei den Satzarten mehrere Konstellationen für intonatorische Minimalpaare existieren, z. B. bei Interrogativsatz vs. Exklamativsatz: Hast du Hunger? vs. Hast du Hunger! oder Ist das eine gute Idee? vs. Ist das eine gute Idee! Wie ein Test mit Explizitmachung durch Sprechaktverben erweist, liegen hier jeweils unterschiedliche propositionale Grundeinstellungen zugrunde: Wie oft hat er geweint? (← Ich weiss es nicht, kannst du es mir sagen) vs. Wie oft hat er geweint! (← Er hat sehr oft geweint, was ich nicht erwartet habe). Solche Minimalpaare sind ein Indiz dafür, dass es sich bei der Satzintonation nicht um ein nebensächliches, „parasitäres“ Begleitphänomen handelt; vielmehr ist diese im Extremfall für sich allein im Stande, die Zugehörigkeit zu einer Satzart festzulegen. In anderen Sprachen scheinen intonatorische Minimalpaare eine weniger grosse Rolle zu spielen. In einem Fall wie |How much remains to be done| kann man zwar sowohl im Englischen als auch im Deutschen (|Wie viel bleibt zu tun|) mit Hilfe der Satzintonation zwischen einer exklamativen von einer interrogativen Lesart unterscheiden. In anderen Fällen unterscheiden sich aber die beiden Satzartstrukturen im Englischen entweder durch die Verbstellung (How tall they are! vs. How tall are they?) oder die do-Periphrase (How quickly it grows! vs. How quickly does it grow?), cf. Huddleston/Pullum 2002: 918f.

Bei den durch eine propositionale Grundeinstellung definierten Satzarten – manchmal wird in gleichem Sinn auch von Satzmodi gesprochen – handelt es sich um ein theoretisches Konstrukt, das den grammatischen Beitrag zur Äusserungsbedeutung erfasst, unabhängig von der konkreten lexikalischen Füllung der Strukturen sowie vom sprachlichen oder aussersprachlichen Kontext. Der Vorteil einer solchen Definitionsart besteht darin, dass die Satzart auch ohne Kenntnis der konkreten Äusserungssituation eindeutig diagnostizierbar ist; sie ist ferner im Prinzip unabhängig vom Sprechaktwert, der mit dieser Äusserung in einer konkreten Situation zum Ausdruck gebracht wird. Anders gesagt: Satzart ist in der hier vertretenen Auffassung der grammatikalisierte Teil der Sprecherintention; sie verleiht dem Satz eine Grobcharakterisierung, „die vielfältig umspielt und gelegentlich sogar überspielt werden kann“ (Näf 1995: 53).6Jeder so definierten Satzart kommt ein – kleineres oder grösseres – kommunikatives Funktionspotential (oder: Illokutionspotential) zu. Die Feinabstimmung auf den vom Sprecher in einer konkreten Situation intendierten Sprechaktwert hin geschieht dann in erster Linie über lexikalische (Satzadverbien, Modalpartikeln, tags, etc.) und phonologische Mittel (Intonation, Lautstärke, Sprechtempo).7 Die propositionale Grundeinstellung ist in dieser Sicht „eine Art kleinster gemeinsamer Nenner, der zum einen die verschiedenen formalen Spielarten unter funktionaler Perspektive in sich bündelt und auf den sich zum andern alle spezifischeren Verwendungsweisen (Sprechaktwerte) reduzieren lassen“.8

1.4 Satzarten: Haupttypen (major) vs. Nebentypen (minor)

In der angelsächsischen Forschung und Grammatikographie ist bei den Satzarten die Unterscheidung zwischen Hauptund Nebentypen (major vs. minor sentence types) verbreitet. Es wird dabei – mit mehr oder weniger Erfolg – versucht, als weniger zentral angesehene Nebentypen von den Haupttypen abzugrenzen, und zwar mit Hilfe von Kriterien wie den folgenden: niedrigere Frequenz, geringere Salienz, geringere Produktivität, geringere kommunikative Wichtigkeit sowie Zurückführbarkeit auf einen Haupttyp. Generell unbestritten ist die Zugehörigkeit zu den major sentence types beim Dreigestirn Deklarativsatz, Interrogativsatz und Imperativsatz.9 Die Exklamativsätze hingegen werden teils zu den Haupttypen, teils zu den Nebentypen gerechnet. In den massgeblichen Grammatiken des Englischen, namentlich in der Comprehensive Grammar von Quirk et al. (1985) und in der Cambridge Grammar von Huddleston/Pullum (2002), haben sie jedoch den Status eines major sentence type.10 Überhaupt ist in den englischen Grammatiken die Vierer-Typologie die am weitesten verbreitete, und das Gleiche trifft auch für die Grammatiken des Französischen zu, wo im Allgemeinen die gleichen vier Satzarttypen angesetzt werden.

Den minor sentence types zugerechnet wird in der angelsächsischen Tradition ein heterogener Restbestand von meist wenig frequenten Strukturen, welche „clause types such as optatives, hortatives, debitives“ umfassen.11 Meist sind diese mit einem ganz spezifischen Sprechaktwert assoziiert. Neben mehr oder weniger stereotypen Formulierungen wie How come (you are late)? oder How about (getting me a beer)? handelt es sich dabei vor allem um Strukturen, die formal als Nebenätze anzusprechen sind, jedoch als unabhängige Sätze mit eigenständiger Illokution verwendet werden, unter ihnen die exklamativen That-Sätze und die If-only-Sätze.

Für die ersteren gibt Siemund (2018: 313) das folgende konstruierte Beispiel: That she would say such things!, das man tel quel auch ins Deutsche übernehmen kann: Dass sie solche Dinge sagen würde! (Konstruktionsbedeutung: ← Das hätte ich nicht erwartet; It is unbelievable…; Siemund 2018: 307). Ob es sich dabei diachronisch betrachtet um ehemalige Nebensätze handelt oder nicht, kann hier dahingestellt bleiben.12 Nach unserer Auffassung müssen diese selbständig verwendeten Strukturen, welche die für die Exklamation typische Grundeinstellung (Verwunderung über eine Erwartungsabweichung) transportieren, zu den Exklamativsätzen gerechnet werden. Von ihrer Auftretensfrequenz her sind sie übrigens keineswegs peripher, auch wenn sie bislang von den Referenzgrammatiken noch kaum beachtet wurden. Bei Schalansky jedenfalls handelt es sich mit 26 Belegen um die (nach den wie-Exklamativsätzen) zweithäufigste Struktur, und entsprechend haben wir sie als Prototyp der Fakt-Exklamativsätze klassifiziert (siehe unten Kapitel 6.1).

Etwas anders verhält es sich mit den If-only-Sätzen (If only I’d listened to my parents), die ja in vielen anderen Sprachen Entsprechungen haben.13 Von ihrer propositionalen Grundeinstellung her (in der Regel handelt es sich um kontrafaktische Wünsche) passen sie zu keinem der vier major sentence types: Wer sagt Wenn ich doch bloss zehn Jahre jünger wäre! (oder If only I were ten years younger bzw. Si seulement j’avais dix ans de moins) will weder sagen, dass etwas der Fall ist, noch etwas erfragen oder jemanden zu etwas auffordern und auch nicht sein Erstaunen über eine Erwartungsabweichung ausdrücken. Vielmehr liegt hier eine eigenständige Grundeinstellung vor, und da bei diesen Sätzen das Auftreten von satzarttypischen Modalpartikeln obligatorisch ist (siehe unten Kapitel 5.1), kann man synchronisch betrachtet zumindest für das Deutsche eine Klassifizierung als Nebensatz ausschliessen. Wie bei den Exklamativsätzen ist auch diese Struktur qua Konstruktionsbedeutung emotional besetzt, und sie dürfte denn auch überwiegend in der gesprochenen Sprache auftreten. Jedenfalls erscheint uns in Anbetracht der genannten Gründe der Ansatz einer eigenen Satzart zwingend, und entsprechend gehen wir denn auch für das Deutsche nicht von einer Vierer-, sondern von einer Fünfer-Typologie aus.

Als Fazit seiner Überlegungen plädiert Siemund (2018: 365f., 390) dafür, künftig die traditionelle Dichotomie major vs. minor clause type durch ein flexibleres Modell mit Übergangsstufen (gradient model of clause types) zu ersetzen, in welchem die Satzarten ein Kontinuum bilden und das es erlaubt, unterschiedliche Grade der Zugehörigkeit zu einer Kategorie zu unterscheiden. Dadurch könnten zum einen mehr oder weniger zentrale Satzarten und zum andern mehr oder weniger typische Ausdrucksformen für eine bestimmte Satzart unterschieden werden. Letztlich plädiert er sogar für einen kontinuierlichen Übergang von einer Satzart in eine andere. Unser Beitrag zielt grossteils in die gleiche Richtung, jedoch halten wir an den fünf unterschiedenen Satzarten als Fixpunkten fest. Dabei bestimmen wir für jede Satzart einen Prototyp, um den herum wir dann einen Kranz von näher oder ferner stehenden Ausdrucksvarianten gruppieren. Dabei zeigt es sich, dass sich der Deklarativsatz dank seinem grossen Illokutionspotential als polyvalenter erweist als die anderen Satzarten. Dies ist auch der Grund dafür, dass man zwar beispielsweise mit einem Deklarativsatz einen Befehl ausdrücken, aber umgekehrt nicht mit einem Imperativsatz eine Feststellung machen oder eine Behauptung aufstellen kann.

1.5 Frequenz der einzelnen Satzarten

Über die Häufigkeitsverteilung der Satzarten im Allgemeinen und in unterschiedlichen Textsorten im Besonderen wissen wir für das Deutsche noch wenig. Man kann sich dieser Frage unter Rückgriff auf den „Angriffshebel“ der Satzschlusszeichen anzunähern versuchen. In einem Zeitungskorpus aus COSMAS II (Umfang: 3,5 Millionen Sätze), in dem die Sätze nach dem Satzschlusszeichen extrahiert wurden, ergab sich folgende Verteilung: Die Punktsätze hatten einen Anteil von 95.7 %, während auf die Fragezeichensätze 3.6% und auf die Ausrufezeichensätze 0.7 % der Belege entfielen (Näf 2006: 92). Zwischen Satzschlusszeichen und Satzart herrscht jedoch bekanntlich keine Eins-zu-Eins-Beziehung. Nur bei den Fragezeichensätzen dürfte es sich grösstenteils um Interrogativsätze handeln. Bei den Punktsätzen ist zu berücksichtigen, dass neben den Deklarativsätzen auch andere Satzarten oft mit einem Punkt enden, etwa der überwiegende Teil der Imperativsätze. Der Anteil der Deklarativsätze dürfte aber trotzdem sehr hoch sein und zwischen 80 und 90 % liegen. In der mündlichen Alltagskommunikation ist dieser aber vermutlich wesentlich niedriger.

Auch im Roman von Schalansky dominieren erwartungsgemäss, wie eine Hochrechnung aufgrund einer Stichprobe ergibt, die Deklarativsätze, mit einem Anteil von ca. 85%. Den mehreren Tausend Deklarativsätzen stehen somit bloss ein paar Hundert Nicht-Deklarativsätze gegenüber. Wenn wir uns hier vereinfachend und pars pro toto auf die Nicht-Deklarativsätze mit finitem Verb beschränken, ergibt sich im Roman von Schalansky die folgende Rangfolge der Frequenzen:

Tabelle 3
Häufigkeitsverteilung der Nicht-Deklarativsätze im Roman Der Hals der Giraffe (Schalansky 2012)
DeklarativsatzMehrere Tausend (Hochrechnung)
Nicht-Deklarativsätze
Interrogativsatz16253.6%
Exklamativsatz8227.1%
Imperativsatz5718.9%
Desiderativsatz10.3%
Total Nicht-Deklarativsätze302~100%

Inwieweit dieser Befund für andere Romane oder sogar für schriftliche Textkorpora generell repräsentativ ist, muss hier dahingestellt bleiben. Dass die Interrogativsätze die zweithäufigste Kategorie darstellen, darf als gesichert gelten; sie nehmen diesen Rang etwa auch in den Romanen von zwei anderen Autoren ein, nämlich Peter Stamm (1998 und 2018) und Thomas Meyer (2012). Hingegen scheint die Drittposition von der Thematik und/oder von idiolektalen Vorlieben der Autoren abzuhängen. Bei Stamm besetzen die Imperativsätze die dritte Position, während sich bei Meyer Imperativund Exklamativsätze die Waage halten. Die seltenste Struktur sind aber stets die Desiderativsätze. Über alle Textsorten hinweg dürfte vermutlich die folgende Rangfolge zutreffen:14

Tabelle 4
Rangfolge der Satzarten im Deutschen (hypothetisch)
DEKL > > > > > > INT > IPV > EXKL > DESID

Etwas besser sind wir über die relative Häufigkeit der Satzarten und ihrer Untertypen im Englischen informiert. Gemäss den Angaben in der Grammatik von Biber et al. (1999: 211ff.) dominieren auch im Englischen mit Abstand die Deklarativsätze. Interrogativsätze und Imperativsätze sind aber vor allem in Gesprächen gut vertreten (Teilkorpus Conversation), weniger frequent sind sie in Fiction, und nur selten treten sie in Newspaper language und Academic proseauf. In einem anderen Korpus zum Englischen15 ergibt sich die gleiche Rangfolge der Satzarten, wie sie oben hypothetisch für das Deutsche angesetzt wurde. Bei der erdrückenden Mehrheit handelt es sich auch hier um Deklarativsätze (89 %), während die Interrogativsätze mit 8.1 % und die Imperativsätze mit 2.9 % vertreten sind. Auf die Exklamativsätze entfallen gerade mal 12 Belege (0.02 %). Beachtenswert ist der Befund, dass vom Total aller Interrogativsätze 87.7% im Teilkorpus mit gesprochener Sprache auftreten; bei den Imperativsätzen sind es mit 61.5% ebenfalls mehr als die Hälfte.

2 Deklarativsatz

Es liegt auf der Hand, die mit Abstand frequenteste und am wenigsten restringierte formale Struktur des Deklarativsatzes, jene mit Verbzweitstellung (vom Typ Du siehst müde aus), als Prototyp anzusehen.16

2. 1 Prototyp und Varianten

Wie oben ausgeführt, ist der Deklarativsatz – und das gilt wohl für alle Sprachen – die mit Abstand häufigste Satzart. Aber nicht nur das: Er ist funktional betrachtet auch die polyvalenteste, umfasst doch sein Illokutionspotential fast alle Sprechaktwerte. Gelegentlich hat man ihm deshalb in der Forschung nicht den Ausdruck repräsentativer Sprechakte (Aussagen, Behauptungen) zugeschrieben, sondern ihn als illokutiv neutral angesehen (cf. Siemund 2018: 48, 135). Wir ziehen es aber vor, ihm die allgemeinste aller Grundeinstellungen, nämlich „sagen, dass etwas der Fall ist“ zuzuordnen. Wegen ihres wenig spezifischen Charakters macht es diese möglich, im Prinzip praktisch alle Sprechaktwerte zu transportieren. Dazu einige Beispiele aus Schalansky (2012): Einräumung (Du hast recht, ibd.: 51); Erlaubnis (Du kannst jetzt gehen, ibd.: 207); dringlicher Rat (Thiele, du könntest wirklich was zur Regionalgeschichte machen, ibd.: 44); Warnung (Ich habe meine Augen überall, ibd.: 58); Erstaunen (Das musst du dir mal vorstellen, ibd.: 147); und mit (seltener) expliziter Thematisierung des Sprechaktwerts: „Du sollst nach vorne kommen! Zu Juliane.“ Das war ein Befehl, keine Information. (ibd.: 96).

Gleich wie die anderen Satzarten kann der Deklarativsatz grundsätzlich in zweierlei Gestalt auftreten: vollständig ausformuliert mit einem finiten Verb, oder aber in Form eines „Kurzsatzes“ ohne ein solches.17 Unabhängig davon, ob ein finites Verb vorhanden ist oder nicht, wird aber jeweils die gleiche propositionale Grundeinstellung transportiert, und dies ist auch der Grund dafür, dass wir die elliptischen Strukturen ohne Verb als Varianten des Prototyps der jeweiligen Satzart betrachten.18

Bei den Sätzen ohne finites Verb gilt es nun vorweg, eine grundlegende Unterscheidung zu treffen, nämlich die zwischen Ersparung und Ellipse. Mit dem frequenten Phänomen der

Ersparung, bei dem das fehlende Verb – sowie gegebenenfalls weitere Elemente – vom vorangehenden (Teil)satz her ergänzt werden müssen, wollen wir uns hier nicht weiter beschäftigen.19 Es handelt sich im Prinzip um normale Sätze mit Verbzweitstellung, wenn auch aus Gründen der Sprachökonomie mit bloss virtueller Zweitstellung. Wenn das Subjektspronomen wie in (5) und (6) erspart ist, führt dies zu einer scheinbaren Verb-Erststellung.

(1) Die Lampe war zu schwach, das Sonnenlicht [...] zu hell (Schalansky 2012: 12).

(2) Quallen leben in salzigen Gewässern, Seerosen [...] in süssen [] (ibd.: 35)

(3) Die Klingel war rausgerissen, die Schilder [...] nicht zu entziffern. Die Tür [...] offen (ibd.: 65).

(4) Vögel bauten Nester, Bienen [...] Waben, Menschen [...] Fertighäuser (ibd.: 161).

(5) Kattner kam ins Zimmer, grüsste in die Runde und studierte den Vertretungsplan (ibd.: 40).

(6) Man wusste, wo man hingehörte. Hatte sein Einkommen. Wusste das Kind versorgt (ibd. 155).

Als Varianten des prototypischen Deklarativsatzes sollen dagegen Sätze mit Ellipse des Verbs (und allenfalls weiterer Elemente) betrachtet und in unser Modell eingeordnet werden.20 Bei diesen ist das „fehlende“ Verb nicht dem Vortext zu entnehmen, sondern muss aus dem Ko(n)text erschlossen werden, was in der Regel problemlos möglich ist, handelt es sich doch dabei meist um inhaltlich banale Verben (im Präteritum, dem Leittempus des Romans: war (es), gab es, herrschte, befand sich, stand, etc.).21

(7) Endlich [...] frische Luft (ibd.: 30).

(8) Überall [...] Verbotsschilder (ibd.: 157).

(9) In der letzten Bank [...] Schweigen (ibd.: 97).

(10) Um den Hals [...] bunte Tücher (ibd.: 13).

(11) Trotz Gewöhnung [...] immer wieder ein Schock (ibd.: 77).

(12) Auf der linken Seite [...] der alte Gutshof, den ein paar Zugezogene bewirtschafteten (ibd.: 73).

(13) Gemeinsame Spaziergänge in Zweiergruppen. Vorne [...] die Männer, hinten [...] die Frauen (ibd.: 98).

(14) Auf siebzig Frauen [...] hundert Männer (ibd.: 43).

Hier lassen sich auch die am Satzanfang auftretenden Ellipsen anschliessen:

(15) [Das war] Der natürliche Lauf der Dinge (ibd.: 30).

(16) [Es waren/dauerte] Noch acht Wochen bis zu den Herbstferien (ibd.: 60).

Ebenfalls zu den Varianten des prototypischen Deklarativsatzes kann man die Fälle mit Vorfeld-Ellipse – und damit scheinbarer Erststellung des Verbs – rechnen. Sie sind nicht bloss viel seltener als die verblosen Kurzsätze, sondern unterliegen auch zahlreichen Restriktionen. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, hier einige Belege für typische Erscheinungsformen. Vor allem in der gesprochenen Sprache – oder in einer diese nachahmenden Diktion – können die Personalpronomen ich und du wegfallen, z. B. (17) bis (19). Relativ häufig findet sich Vorfeld-Ellipse auch bei (ana)phorischen Elementen wie das, es, da, u. a. (vom Typ Tut mir leid), cf. (20) bis (22).22

17) „Hab was vergessen.“ (ibd.: 167).

(18) „Kenn ich, kenn ich. Hatte ja auch mal eins.“ (ibd.: 78).

(19) „Kannst dir doch vorstellen, was das bedeutet.“ (ibd.: 169).

(20) „Ist ja alles schön und gut.“ (ibd.: 142).

(21) „Stimmt doch gar nicht.“ (ibd.: 140).

(22) Alle Achtung. Machte er wirklich gut (ibd.: 127).

2.2 Konkurrenzformen

Zu den Konkurrenzformen des Deklarativsatzes kann man die rhetorischen Fragen zählen, die sowohl bei den Verb-Erst(Habe ich dich nicht gewarnt?) als auch bei den w-Strukturen (Wer zahlt schon gerne Steuern?) auftreten (33 Belege für die w-Belege bei Schalansky, siehe unten 4.3).23 Bei diesen handelt es sich bekanntlich nicht um echte Fragen, auf die man eine Antwort erwartet, sondern sie tragen diese schon in sich und können von daher als indirekte Behauptungen angesehen werden, z. B.

(23) Was nützte ein Kind auf der anderen Seite der Erde? (ibd.: 53).

(24) Was ging sie fremdes Elend an? (ibd.: 61).

(25) Was sind schon Millionen von Samenzellen gegen eine grosse Eizelle, die nur einmal im Monat reift? (ibd.: 121).

Andere Konkurrenzformen des Deklarativsatzes unterliegen stärkeren Restriktionen, etwa die Als-ob-Sätze, die zur energischen Zurückweisung eines Sachverhalts dienen. Bei Schalansky finden sich 18 einschlägige Belege (meist mit Konjunktiv II, aber auch mit Präteritum):24

(26) Als ob damit irgendjemandem geholfen wäre (ibd.: 9), (≈ ‚Damit ist niemandem geholfen‘)

(27) Als ob es sonst anders wäre (ibd.: 112).

(28) Als ob das was zu bedeuten hatte (ibd.: 141).

(29) Als ob in Bayern andere Naturgesetze galten (ibd.: 177).

Auf dem Weg der Grammatikalisierung scheint auch die Kurzsatzstruktur Von wegen X zu sein, die man ebenfalls zu den Konkurrenzformen des Deklarativsatzes rechnen kann. Diese – im Duden-Wörterbuch als umgangssprachlich bewertete – Konstruktion ist insofern restringiert, als sie nur für (nachdrückliche) negierte Aussagen verwendet werden kann und praktisch auf die beiden Sprechakte Widersprechen („Das stimmt ganz und gar nicht“) und Ablehnen, Zurückweisen („Das kommt gar nicht in Frage“) beschränkt ist. Bei Schalansky finden sich insgesamt 9 Belege, öfter verbunden mit einer „Richtigstellung“ im Nachtext:

(30) Von wegen Liebesheirat. […] Zwangsheirat war das (ibd.: 138).

(31) Von wegen Zukunft. Diese Kinder hier waren nicht die Zukunft (ibd.: 14).

(32) Von wegen Schulung der sozialen Kompetenz (ibd.: 131).

Zur freien stilistischen Variation sollen hier unter anderem illokutiv selbständige Nominalgruppen vom Typ Mein ständiger Kampf gegen das Einnicken (≈ ‚Ich kämpfte ständig gegen das Einnicken‘) gezählt werden, welche vor allem in literarischen Texten als Stilmittel eingesetzt werden. Beim Nomen handelt es sich typischerweise um substantivierte Infinitive oder Verbalabstrakta, und öfter ist dieses von einem Possessivdeterminativ begleitet.25 Mit Nomen und Nominalgruppen wird in der Regel auf Gegenstände referiert; die hier interessierenden Nominalgruppen sind aber latente Prädikationen, bei denen das Subjekt öfter in Form eines Attributs (Possessivdeterminativ, Genitivattribut) präsent ist. Auch weitere Nomen mit der (mehrdeutigen) Haben-Relation sind auf analoge Weise verwendbar, z. B. (38): ‚Sie hatte ein eckiges Gesicht‘.

(33) Sein Verkäufergrinsen (ibd.: 149). (≈ ‚Er grinste wie ein Verkäufer‘)

(34) Sein strenger Blick (ibd.: 205).

(35) Wieder Stöhnen, aber sie gehorchten (ibd.: 119).

(36) Das Rauschen der Klospülung. Kevins Stimme. Lautes Lachen. Plötzlich wieder Stille (ibd.: 208.)

(37) Ein Herumschieben der Bücher und Hefte. Kramen nach Stiften (ibd.: 103).

(38) Ihr eckiges Gesicht. […] Ihre weissen Zähne (ibd.: 217) […] Ihre nackten Kinderknie (ibd.: 219).

Ausgehend vom Beleg (Du wirkst abgehetzt.) Siehst müde aus (ibd.: 171) hier nun eine tabellarische Zusammenfassung der besprochenen Strukturen:

Tabelle 5
Deklarativsatz: Zentrum und Peripherie
PROTOTYP Ich bin heute sehr müde.
VARIANTEN Binheute sehr müde./Siehst heute müde aus. Am Abend [] dann alle sehr müde.
KONKURRENZFORMEN Bist du etwa nicht müde? Als ob ich müde wäre.Von wegenmüde!Ich und müde?
FREIE STILISTISCHE VARIATION Meine chronische Müdigkeit.Mein ständiger Kampf gegen das Einnicken. etc.

3 Interrogativsatz

Bei der sprachlichen Interaktion gehört der Informationsaustausch mittels Frage-Antwort-Sequenzen zu den elementarsten Sprechhandlungen. Dabei halten die Sprachen der Welt für diesen Satztyp jeweils unterschiedliche sprachliche Ausdrucksmuster bereit. Der Interrogativsatz in seinen beiden Erscheinungsformen ist die zweithäufigste Satzart, und er hebt sich vom Deklarativsatz, der unmarkierten Referenzform, meist durch zusätzliche formale Mittel ab, in erster Linie durch hinzugefügte Partikeln (vor allem am Satzende).26 Dabei wollen wir die – letztlich unentscheidbare – Frage offen lassen, ob die Interrogativsätze in irgendeinem Sinne (theoretisch, diachronisch, u. a.) von den Deklarativsätzen „abgeleitet“ sind, wie das von den Vertretern des „derivational approach“ angenommen wird (cf. Siemund 2018: 205). Eine vom Deklarativsatz „abweichende“ Wortfolge, etwa durch Inversion von Subjekt und Verb wie im Deutschen oder im Englischen (mit „subject-auxiliary inversion“, Siemund 2018: 161) ist mit Blick auf die Sprachen der Welt allerdings eine grosse Seltenheit.27 Schliesslich gibt es eine grosse Gruppe von Sprachen (unter ihnen Italienisch und Spanisch), die sich zur Differenzierung allein auf die Satzmelodie abstützen, sodass wir es auch hier wiederum mit intonatorischen Minimalpaaren zu tun haben: Ital. È contenta bedeutet je nach Intonation ‚Sie ist zufrieden’ oder ‚Ist sie zufrieden?’

Schon lange wird in der Forschung darauf hingewiesen, dass die Funktion Informationsfrage („über etwas, das man selber nicht weiss, jemandem eine Frage stellen“) zwar die für die Interrogativsätze prototypische ist, dass aber durch dieses Konstruktionsmuster darüber hinaus noch eine breite Palette von Sprecherintentionen transportiert werden kann. Allerdings scheint es zumindest im Englischen so zu sein, dass dieses Illokutionspotential im Diskurs nur relativ wenig genutzt wird.28 Für das Deutsche gibt es noch kaum quantitative Studien zu den Sprechaktanteilen in unterschiedlichen Textsorten. Im Roman von Schalansky dominieren erwartungsgemäss die Informationsfragen (Wer von euch hat denn ein Haustier? Schalansky 2012: 132), relativ stark vertreten sind aber auch deliberative Fragen, welche von der Erzählerin an sich selber gerichtet werden (Wie alt mochte sie da gewesen sein? ibd.: 207). Viel diskutiert in der Forschung wurden seit Austin und Searle die Bitten (Können Sie bitte mal mitkommen? ibd.: 204). Eine relativ frequente Funktion der Interrogativsätze sind sodann die rhetorischen Fragen, die man als indirekte Behauptungen auffassen kann (Was hatte sie damit zu tun? Nichts ibd.: 207). Daneben finden sich Sprechakte wie „Zustimmung suchen“ (Findest du nicht auch? ibd.: 98), „zu etwas ermuntern, raten“ (Willst du nicht investieren? ibd.: 80). Im Weiteren treten auch negativ bewertende Akte wie „Vorwürfe machen“ auf (Hörst du überhaupt zu? ibd.: 207), und auch der Gefühlsausdruck in Gestalt von Interrogativsätzen ist gut vertreten, z. B. „Ungeduld ausdrücken“ (Könnte jetzt nicht endlich mal der Bus kommen? ibd.: 72) oder „Geringschätzung ausdrücken“ (Wie blöd konnte man eigentlich sein? ibd.: 161).

Die Ja/Nein-Interrogativsätze (Entscheidungsfragen), meist mit steigender Intonation realisiert, stellen die elementarste Form der Interrogation dar. Mit einer „polaren“, ergebnisoffenen Frage wie Hast du gelogen? will der Sprecher dem Adressaten eine Antwort entlocken. Demgegenüber erkundigt man sich mit einem w-Interrogativsatz (Ergänzungsfrage) nach einzelnen Umständen, in Warum hast du gelogen? beispielsweise nach dem Grund. Man kann die w-Interrogativsätze als das Resultat einer Überschichtung von zwei Äusserungen auffassen, nämlich Du hast gelogen und Warum hast du das getan? Jedenfalls präsupponiert dieser Satztyp stets eine Behauptung, was der Grund dafür sein könnte, dass er mit fallender Intonation realisiert wird.

3.1 Prototypen

Der kleinste gemeinsame Nenner der beiden Interrogativsatz-Strukturen ist die propositionale Grundeinstellung „etwas wissen wollen“, was für den Ansatz eines einzigen Prototyps sprechen könnte. Da sich aber die sprachlichen Realisierungsformen von „wissen wollen, ob“ und „wissen wollen, w-“ deutlich voneinander unterscheiden, geben wir hier dem Ansatz von zwei Prototypenden Vorzug.29 Dabei soll bei den Ja/Nein-Interrogativsätzen die Struktur mit VerbErst(Wohnst du hier?) als Prototyp gelten, bei den w-Interrogativsätzen jene mit Verb-Zweitstellung(Wo wohnst du?). Bei Schalansky sind die verbalen w-Sätze mit 112 Belegen deutlich häufiger als die Entscheidungsfragen (43 Belege). In den beiden Romanen von Peter Stamm dominieren dagegen die Verb-Erst-Interrogativsätze mit fast zwei Dritteln aller Belege. Daten über die Häufigkeitsverteilung der beiden Satztypen über alle Register und Textsorten hinweg scheinen im Deutschen noch nicht vorzuliegen. In einem englischen Korpus (mit insgesamt 4108 Interrogativsätzen) überwiegen über alle Register hinweg die Yes/No-Interrogativsätze, mit einem Anteil von 58,5 %. Dies trifft vor allem für mündliche Dialoge zu, während im schreibsprachlichen Teil des Korpus die Verteilung ausgeglichen ist (Siemund 2018: 207f.). Die Daten dieses englischen Korpus wurden darüber hinaus auch noch nach Sprechaktwerten aufgeschlüsselt. Von besonderem Interesse ist dabei der Befund, dass bei beiden Satztypen die Informationsfragen („information-seeking function“) stark dominieren, mit einem Anteil von 73,8 % bei den Ja/Nein-Interrogativsätzen („polar interrogatives“) und sogar von 91,2 % bei den w-Interrogativsätzen („constituent interrogatives“).30

Von den w-Interrogativsätzenenthalten fast zwei Drittel eine Modalpartikel, wobei denn mit 34 Belegen erwartungsgemäss stark dominiert, gefolgt von eigentlich mit 9 Belegen.

(39) Was um Himmels willen wollte Claudia dort? (ibd.: 99).

(40) Wo hast du das denn wieder her? (ibd.: 79).

(41) Was wollte sie denn von ihr? (ibd.: 180).

(42) Wer von Ihnen hat denn ein Haustier? (ibd.: 132).

(43) Wie lange bist du eigentlich schon hier? (ibd.: 145).

(44) Aber was ist eigentlich los mit dir? (ibd.: 171).

(45) Was sollte sie bloss machen mit all der Zeit? (ibd.: 37).

Bei den Entscheidungsfragen ist der Anteil der Belege mit Modalpartikeln etwas geringer (20 von 43 Belegen), es dominieren hier überhaupt und (nicht negierendes) nicht:

(46) Hatten sie einen inneren Kompass? (ibd.: 85).

(47) Hörst du überhaupt zu? (ibd.: 207).

(48) Willst du nicht investieren? (ibd.: 80).

(49) Bist du etwa nicht für den Frieden? (ibd.: 77).

3.2 Varianten

Wegen ihrem gegenüber dem Prototyp stark eingeschränkten Illokutionspotential sollen zum einen die rhetorischen Fragen (mit Verb-Erstoder w-Struktur) und zum andern die assertiven Fragen (mit Verb-Zweit-Stellung) zu den Varianten gestellt werden.

Bei Schalansky treten rhetorische Fragen in erster Linie in Form von w-Interrogativsätzen auf: Von diesen letzteren sind nämlich fast ein Drittel (33 Belege) von ihrer Funktion her als rhetorische Fragen anzusprechen, ein Befund, der zeigt, dass es sich bei dieser Verwendungsweise keineswegs um ein marginales Ausdrucksmittel handelt.31 Das Gleiche trifft auch auf das Englische zu. So ist etwa im ICE-GB-Korpus nach Siemund (2018: 175, 209) die rhetorische Verwendung beim Ja/Nein-Typ mit 3,4 % die vierthäufigste und beim w-Typ mit 4,5 % sogar die zweithäufigste illokutive Funktion der Interrogativsätze.32 Im Deutschen sind hier die prototypischen Modalpartikeln schon (13x) und auch (6x):

(50) Was ging sie fremdes Elend an? (Schalansky 2012: 61).

(51) Woher sollte er was wissen? (ibd.: 204).

(52) Aber was half das schon? (ibd.: 152).

(53) Was blieb ihr auch anderes übrig? (ibd.: 208).

Demgegenüber sind bei den Ja/Nein-Fragesätzen die assertiven Fragen33 (mit Verb-Zweitstellung) – auch Intonationsfragen genannt – die wichtigste Untergruppe der Varianten. Typisch für diese Struktur (7 Belege bei Schalansky) ist das Auftreten der Modalpartikel doch und/oder von tags am Satzende (oder, nicht wahr, etc.). Während die Verb-Erst-Interrogativsätze neben der – ergebnisoffenen – Informationsfrage (Darf ich Inge sagen?) eine ganze Palette von Sprechakten transportieren können, ist die Intonationsfrage diesbezüglich restringierter und dient in erster Linie zur Vergewisserung: der Sprecher erwartet eine Bestätigung der von ihm präferierten, ja oft geradezu suggerierten Antwort. Man spricht deshalb auch von Bestätigungsfragesatz.

(54) Ich darf doch Inge sagen, oder? (ibd.: 163).

(55) Sie heulte doch nicht etwa? (ibd.: 162).

(56) Man lernt tatsächlich nie aus, nicht wahr? (ibd.: 157).

(57) Die Kühe paaren sich doch gar nicht mehr wirklich, oder? (ibd.: 125).

Assertive Fragen existieren in vielen Sprachen, und sie stellen die Grammatiker vor ein kaum befriedigend zu lösendes Dilemma. Was soll man hier höher gewichten, die Verbstellung oder die (steigende) Satzintonation und die von dieser mitgetragene Grundeinstellung „etwas wissen wollen“? Je nachdem wird man diese Struktur zu den Deklarativsätzen oder aber zu den Interrogativsätzen schlagen. Siemund (2018: 141) rechnet diese „declarative questions“, die häufig von Interviewern verwendet werden, zu den Deklarativsätzen, unter Hinweis auf deren „heavy answer bias“, durch den sie die Proposition, die sie ausdrücken, quasi vorwegnehmend assertieren. Wir geben hier jedoch der Lösung den Vorzug, die assertiven Fragen unter den Interrogativsätzen einzuordnen. Auch wenn ein Interviewer mit diesem Ausdrucksmittel seinen Interviewpartner zur Bestätigung einer ihm vorgelegten Konklusion geradezu drängt (Sie selber sind also für die Todesstrafe?), liegt hier unseres Erachtens letztlich aber immer noch die – gewiss etwas strapazierte – Grundeinstellung „etwas wissen wollen“ vor, und es bleibt dem Befragten freigestellt, in welchem Sinne er antworten will. Im Rahmen unseres Vier-Stufen-Modells betrachten wir diese Struktur aber wegen ihrer eingeschränkten Illokution bloss als eine Variante der prototypischen Verb-Erst-Struktur.

Zu den Varianten der kanonischen Form kann man ferner auch die – bei Schalansky allerdings nicht auftretende – Struktur mit dem w-Wort in situ rechnen, i. e. an der Stelle, in der es in einem entsprechenden Deklarativsatz auftreten würde (Du wohnst wo?). Während diese Konstruktion etwa im Französischen vor allem in der gesprochenen Sprache dominiert, ist sie im Deutschen selten und an Sonderbedingungen gebunden. Sie tritt namentlich mündlich in Domänen wie Schule, Gericht etc. auf (Luther ist wann geboren?; Sie sind was von Beruf?).34

Im Französischen kann man bei den Interrogativsätzen eine grosse Formenvielfalt feststellen, wobei die Intonationsfrage (Tu as froid?; T’as froid?), die periphrastische Frage (Est-ce que tu as froid?) und die Inversionsfrage nur die gängigsten Typen darstellen. Diese letztere tritt jedoch im mündlichen Gebrauch selten und nur in formellen Situationen auf. Während eine Frage wie .As-tu froid? aus pragmatischen Gründen kaum möglich scheint, kann man sich in einem hierarchisch markierten Kontext eine mündliche Inversionsfrage wie Avez-vous déjà terminé la rédaction de votre rapport? durchaus vorstellen. Noch grösser ist die Vielfalt bei den w-Fragen, wo in der gesprochenen Sprache die Konstruktion mit Fragewort in situ zu dominieren scheint: Tu vas où? Tu fais quoi? (cf. Söll/Hausmann 1985: 138–148).

3.3 Konkurrenzformen

In ihrem Gebrauch noch stärker restringiert sind die Interrogativsätze mit Verb-Endstellung vom Typ Ob sie wohl hier wohnt? bzw. Wo sie wohl wohnt?, weshalb sie hier unter den Konkurrenzformen eingeordnet werden sollen.35 Diese Struktur (meist mit dem Verb in der 3. Person) dient nicht dazu, jemandem eine Frage mit der Hoffnung auf eine Antwort zu stellen, sondern der Sprecher stellt, an sich selbst gewandt, eine Frage in den Raum oder zieht erwägend eine Möglichkeit in Betracht; man spricht deshalb gelegentlich auch von deliberativen Fragen. Für die w-Struktur gibt es bei Schalansky 7 Belege, davon 5 mit der zu diesem Formtyp affinen Modalpartikel wohl.

(58) In welchem [Gehöft] sie wohl wohnte? (ibd.: 75).

(59) Was ihre Eltern wohl machten? (ibd.: 25).

(60) Was die da wohl machten? (ibd.: 136).

Es ist hier nicht möglich, die – quantitativ betrachtet nur etwa halb so häufigen – Interrogativsätze ohne finites Verb formal und funktional zu analysieren. Öfter handelt es sich um stark ko(n)textgebundene Minimaläusserungen wie Was?, Was denn?, Was denn nun?, Wieso?, Wie auch?, Mit wem auch?, Na, wie denn sonst? etc. Meistens sind es Belege mit Ersparung, weniger häufig solche mit Ellipse. Es gibt jedoch a priori keinen Grund, diesen – formal reduzierten Gebilden, die zum Teil semantisch weniger eindeutig zu dekodieren sind, den Satzcharakter abzusprechen.

Im englischen ICE-GB-Korpus treten bei den w-Interrogativsätzen 16,5 % in reduzierter Form auf. Im Vergleich zu den diesbezüglich extremen Relationen bei den what-Exklamativsätzen (79 % sind reduziert, z. B. What a mess!) ist das ein eher niedriger Anteil (siehe unten Kapitel 6.2). Wie Siemund (2018: 387–89) sind wir der Ansicht, dass strukturell unvollständige, i. e. vor allem verblose Sätze, ganz generell als weniger prototypische Vertreter einer Satzart anzusprechen sind.

Wie die voll ausformulierten Fragesätze transportieren die reduzierten gleichfalls eine propositionale Grundeinstellung, und auch bezüglich der Kompatibilität mit Modalpartikeln zeigen sie die gleichen Affinitäten. Die Fälle von Ersparung mit bloss virtueller Präsenz des Verbs (und allenfalls weiterer Satzkonstituenten) sollen auch hier als (reduzierte) Realisierungen des Prototyps angesehen werden, z. B.

(61) Was war im letzten Jahr gewesen? […] Und [was war] im vorletzten Jahr [gewesen]? (ibd.: 30).

(62) Frau Lohmark unterrichtet frontal, stand im Bericht. Ja, wie [sollte sie] denn sonst [unterrichten], Klugscheisser! (ibd.: 47).

(63) „Was machst du denn noch hier?“ […] Und [was machst] du [hier]? (ibd.: 167).

(64) Was sollte sie bloss noch machen in all der Zeit? [Sollte sie] Abwarten und Tee trinken? (ibd.: 37).

Die Belege mit Ellipse hingegen sollen auch hier wie bei den Deklarativsätzen zu den Varianten geschlagen werden, z. B.

(65) [Ist das] „Auto kaputt?“ (ibd.: 78).

(66) [Hast du] „Schon mal was von Aufsichtspflicht gehört?“ (ibd.: 205)

(67) [Sollte sie] Irgendwo noch einmal neu anfangen? (ibd.: 36)

Die Möglichkeiten von freier stilistischer Variation sind in Tabelle 6 bloss angedeutet. Statt eine direkte, unter Umständen für den Adressaten gesichtsbedrohende Frage zu stellen, greifen Sprecher oft auf indirekte Sprechakte zurück, in erster Linie auf Deklarativsätze, die ein Nichtwissen ausdrücken oder ein Problem benennen (z. B. Ich weiss nicht, wo er wohnt), und überlassen es damit dem Angesprochenen, ob dieser auf das Thema eintreten will oder nicht (cf. dazu Siemund 2018: 198f.).

Tabelle 6
Interrogativsatz: Zentrum und Peripherie
PROTOTYPENWohnst du hier? [Ja/Nein-Interrogativsätze] Wo wohnst du? [w-Interrogativätze]
VARIANTENDu wohnst doch hier, oder? Du wohnst wo?Wohnst [du] hier?Wer will schon hier wohnen?
KONKURRENZFORMENOb er wohl hier wohnt? Wo er wohl wohnt?
FREIE STILISTISCHE VARIATIONIch möchte wissen, wo er wohnt. Kannst du mir sagen, wo er wohnt? Sag mir doch bitte, wo er wohnt. etc.

4 Imperativsatz

4.1 Prototyp und Varianten

Beim Imperativsatz mit der propositionalen Grundeinstellung „erreichen wollen, dass etwas der Fall ist“ bietet sich wie von selbst die Struktur mit dem – exklusiv in dieser Satzart auftretenden Modus Imperativ und mit Erststellung des Verbs als Prototyp an. Schon immer wurde aber betont, dass es zum Ausdruck von Aufforderungen eine reiche Palette von formalen Möglichkeiten gibt. Da der Roman „Der Hals der Giraffe“ im schulischen Milieu spielt, sollen hier nach Möglichkeit direkte Reden aus der Klassenzimmer-Kommunikation zitiert werden, vor allem (asymmetrische) Handlungsanweisungen der Lehrpersonen.

Insgesamt gibt es bei Schalansky 57 Belege für Verb-Erst-Imperativsätze. Diese enthalten 20 Modalpartikeln (10x mal, 4x doch) und in mehreren Fällen auch einen Anredenominativ.

(68) „Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf“ (ibd.: 7).

(69) „Merken Sie sich das!“ (ibd.: 124).

(70) „Tom, lesen Sie bitte vor.“ (ibd.: 129).

(71) „Steigen Sie ein.“ (ibd.: 178).

Wie in den meisten Sprachen der Welt existiert auch im Deutschen mit dem Imperativ eine besondere formale Kategorie für an Adressaten in der 2. Person (Sg./Pl.) gerichtete Aufforderungen, wobei das Subjektspronomen getilgt ist.36 Im Deutschen, aber auch etwa im Französischen, unterscheidet sich nur die Singularform vom Indikativ, während im Englischen eine Einheitsform (plain form) existiert, die formal dem Infinitiv ohne to entspricht. Abgesehen von der Kontrastbetonung tritt das Subjektspronomen you im Englischen beim Imperativ eher selten auf. Wenn dies aber der Fall ist, kann es interessanterweise je nach Sprechsituation und „Ton“ zwei emotional besetzte, aber gegensätzliche Sprechaktwerte transportieren: zum einen handelt es sich oft um schroffe, ja aggressive Äusserungen wie You get out!; You behave yourself; You mind your own business!, die in vielen Situationen viel zu direkt wirken, zum andern aber im Gegenteil um beruhigende, ermutigende Äusserungen z. B. You sit down and have a nice cup of tea; everything is going to be all right.37

Die Imperativsätze mit Verbzweitstellung kann man als Varianten des Prototyps ansehen. Während schwachtonige Partikeln (so, nun, na, jetzt, dann u. a.: Jetzt schlagt mal das Buch auf) im Vorfeld kaum Restriktionen unterliegen, sind „volltonige“ Satzglieder selten und auf besondere Kotexte beschränkt.38 Der einzige Beleg dafür bei Schalansky ist (74):39

(72) Na warte (ibd.: 19).

(73) Ach, hör doch auf mit den Gruselmärchen (ibd.: 49).

(74) „Zu Donnerstag [...] bearbeiten Sie bitte die Aufgaben fünf und sechs“ (ibd.: 30).

Zu den Varianten kann man auch die – meist negierten – Aufforderungen in Form von dassSätzen mit betontem ja rechnen, mit denen meist an eine dem Adressaten bereits bekannte Aufforderung erinnert wird, oft verbunden mit dem Sprechaktwert einer Warnung oder Drohung, z. B. Dass du mir ja nicht zu spät kommst! Bei Schalansky findet sich jedoch kein einschlägiger Beleg.

4.1 Konkurrenzformen

Bei den Imperativsätzen gibt es eine grosse Vielfalt von Konkurrenzformen. Relativ geläufig und frei verfügbar – und für Handlungsanweisungen in gewissen Textsorten (Gebrauchsanweisungen, Kochrezepte) geradezu typisch – sind Infinitive bzw. Infinitivgruppen, z. B. Vor Gebrauch gut schütteln : Bien agiter avant usage.40 Beim englischen Äquivalent muss man das Verb wohl als Imperativform interpretieren: Shake well before use. Textsortenbedingt ist diese Struktur bei Schalansky mit 6 Belegen nur schwach vertreten. Für den Unterrichtsdiskurs sind einzelne mehr oder weniger stereotype Formulierungen mit infiniten Verbformen typisch, z. B. Alle mal aufpassen! bzw. mit Partizip II: Alle mal aufgepasst! Die Partizip-II-Konstruktionen unterliegen jedoch zahlreichen Restriktionen und können wegen ihres apodiktischen Tons nur in wenigen Domänen auftreten; der Situationskontext von (77) ist der Sportunterricht.

(75) „Setzen“ (ibd.: 103).

(76) Zum Ende kommen! (ibd.: 108)

(77) „Stillgestanden!“ (ibd.: 58)

Zu den Konkurrenzformen des Imperativsatzes kann man im Weiteren die zu den Aufforderungsakten gehörigen Konjunktiv-I-Sätze(vom Typ Für nähere Auskünfte wende man sich an das Sekretariat) rechnen. Wie in anderen Sprachen dient der Konjunktiv I auch im Deutschen in gewissen Fällen zur Ergänzung des defektiven Imperativ-Paradigmas für die 3. Person Singular/Plural. Bei Schalansky findet sich nur ein Beleg (78), wo eine archaische Formel für Kochrezepte auf die Domäne Politik übertragen wurde.

(78) Man nehme demokratisch und frei und ersetze es durch sozialistisch. (ibd.: 150)

Man kann diese Sätze als Relikte einer ehemals produktiveren Struktur ansehen. Noch im 18. Jahrhundert dürften Hauptsätze in „jussiver“ Funktion mit dem exklusiven Erkennungsmerkmal Konjunktiv I die vierthäufigste Satzart gewesen sein; für die Zeit der Klassik macht der Ansatz einer eigenständigen Satzart, die man Debitivsatz (zu lat. debēre ‚sollen‘) nennen kann, denn auch durchaus Sinn. So findet man etwa in Schillers Wilhelm Tell (1804 uraufgeführt) einerseits Sätze mit Elementen an der Subjektstelle, wie sie auch heute noch marginal vorkommen können: man (Gessler: Man bind ihn an die Linde dort! Schiller 1804/1966: 611), Indefinitpronomen (vor allem jeder, keiner. Jetzt gehe jeder seines Weges still, ibd.: 596) oder verallgemeinernder Relativsatz (Was sein muss, das geschehe, ibd.: 594). Darüber hinaus sind aber bei Schiller auch Sätze mit nominalem Subjekt noch völlig geläufig (Des Schwertes Ehre werde Schwyz zuteil, ibd.: 588), dies auch ausserhalb der damals verbreiteten – und heute archaischen Anrufungen Gottes und Segensformeln (Gott schirme Euch bei Eurer alten Freiheit! ibd.: 562).41

Auch im Englischen wird für Aufforderungen in der 3. Person zum Teil noch auf den Subjunktiv (ohne Endung -s gebildet) zurückgegriffen, vor allem mit Indefinita, wie etwa in Nobody moveoder Everybody relax, cf. Siemund 2018: 239. Sowohl im Englischen wie im Deutschen kann man in der 3. Person Singular dank der Modusmarkierung zwischen Aufforderungen und Feststellungen unterscheiden: Somebody get me a screwdriver vs. Somebody gets me a screwdriver. Jemand hole.holt mir einen Schraubenzieher. Im Plural ist diese Struktur infolge Formenzusammenfalls ambig geworden: All those in the front row take one step forward (Huddleston/Pullum 2002: 924). Sie überlebt heute im Wesentlichen nur noch in mehr oder weniger festen Wendungen wie God save the Queen : Gott schütze die Königin : (Que) Dieu protège la Reine. Auch im Französischen sind die entsprechenden Strukturen archaisch: Vive la France! (Que) le Ciel te bénisse! etc.42

Nicht näher eintreten können wir hier auf den – bei Schalansky nicht belegten – Adhortativ (1. Person Plural Konjunktiv I), mit dem man eine Aufforderung ausdrückt, die sich an mehrere Personen, den Sprecher inklusive, richtet. Auch diese Form lässt sich synchronisch betrachtet suppletiv ins Imperativparadigma integrieren. Ursprünglich handelt es sich um Konjunktiv-IFormen, doch fallen diese bei fast allen Verben – gleich wie im Französischen – formal mit dem Indikativ zusammen: Gehen wir essen!, aber noch mit Konjunktivform: Seien/.Sind wir doch ehrlich!. Das Verb steht in Erstposition, und das Pronomen wir ist obligatorisch, dies im Gegensatz zum Französischen, wo dieses wegfällt: Allons manger!, Soyons honnêtes! Im Englischen übernimmt die Periphrase mit let us teilweise die Funktion des Adhortativs: Let’s go for lunch!, Let’s be honest!. Siemund verwendet für diesen Typ den Terminus hortative und ordnet ihn bei den minor clause types ein (2018: 84f., 259).43 Die entsprechende Konstruktion ist im heutigen Deutsch veraltet: oremus : lasset uns beten : let us pray : prions.

Hier anschliessen kann man die elliptischen Aufforderungsakte, die meistens eine Richtungsangabe (in Form eines Adverbs oder einer Präpositionalgruppe) enthalten; das hinzuzudenkende Verb kann jeweils leicht aus dem Ko(n)text erschlossen werden:44

(79) „In ganzen Sätzen, bitte.“ (Schalansky 2012: 184).

(80) Alle raus zum ersten Mai! (ibd.: 76).

(81) Stifte und Finger weg. (ibd.: 109).

(82) Brust raus, Po rein! (ibd.: 58).

(83) „Lösungen ins Heft, bitte.“ (ibd.: 130).

Es stellt sich hier nun die Frage, wie man die anderen zum Ausdruck von Aufforderungen verwendbaren Satzarten in unser Modell einordnen will, insbesondere die Deklarativsätze mit Aufforderungsfunktion; diese sind schon dadurch restringiert in ihrem Gebrauch, dass sie nur in der 2. Person Singular/Plural und der Sie-Form im Indikativ Präsens bzw. Futur auftreten können.45 Im Prinzip ist jeder Imperativsatz in einen Deklarativsatz transformierbar (Geh jetzt ins Bett → Du gehst jetzt ins Bett/Du wirst jetzt sofort ins Bett gehen). Wir schlagen hier vor, die Deklarativsätze ohne Modalverb zu den Konkurrenzformen zu zählen, jene mit einem Modalverb sowie die Interrogativsätze dagegen zur freien stilistischen Variation. Eine solche Grenzziehung lässt sich damit rechtfertigen, dass die einschlägigen Deklarativsätze mit Vollverb im Indikativ als die stärkste und „definitivste“ Form einer Aufforderung anzusprechen sind, da sie dem Adressaten kaum mehr einen Handlungsspielraum einräumen. Ein Satz wie Du gehst jetzt ins Bett duldet keinen Widerspruch und kann daher nur in wenigen Domänen und bei einem entsprechenden Autoritätsgefälle zum Einsatz kommen. Gegenüber dem originalen Imperativsatz (84) aus der Lehrer-Schüler-Kommunikation kann der Deklarativsatz (84a), je nach Tongebung, ziemlich apodiktisch wirken. Deklarativsätze mit Modalverb wie (84b) oder (85) oder Interrogativsätze (84c) wirken dagegen wesentlich „abgefederter“, und ihr Sprechaktwert ist häufig nicht der eines Befehls oder einer strikten Anordnung, sondern einer Bitte oder eines Rats.

(84) „Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf“ (ibd.: 7)

(84a) Sie schlagen jetzt das Buch auf Seite sieben auf.

(84b) Sie sollten jetzt das Buch auf Seite sieben aufschlagen.

(84c) Würden Sie jetzt (bitte) das Buch auf Seite sieben aufschlagen?

(85) Das können Sie sich ruhig aufschreiben. (ibd.: 124)

Insgesamt erweisen sich die Imperativsätze in der Lehrer-Schüler-Kommunikation als der Default-Wert, während Deklarativsätze – auch wenn hier natürlich letztlich vieles vom „Ton“ abhängt – als zu schroff empfunden werden. Eine ergiebige Quelle für apodiktische Deklarativsätze ist die Eltern-Kinder-Kommunikation. Solche finden sich denn auch in grosser Zahl in Meyers Roman Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse (Meyer 2012), in dem die jüdische Mutter ihren Sohn unbedingt mit einer Glaubensgenossin verkuppeln will:

„Mordechai! Du rufst sie jetzt an!“ (ibd.: 15); „Dann hörst du jetzt zu!“ (ibd.: 16); „Du nimmst eine!“ (ibd.: 30); „Du hörst jetzt auf zu essen!“ (ibd.: 51), etc. Zwar zielt man mit solchen Sätzen im Präsens auf ein zukünftiges Geschehen, aber dieses wird als quasi unfehlbar eintreffend hingestellt, womit diese Struktur im Grunde gut zur propositionalen Grundeinstellung der Deklarativsätze „sagen, dass etwas der Fall ist“ passt.

Auch im Englischensind Deklarativsätze mit Aufforderungscharakter („declarative commands“) gebräuchlich, offenbar im Wesentlichen in den gleichen Situationskontexten wie im Deutschen. Nach Siemund (2018: 144) eignet sich diese Struktur für strenge Befehle („rather fierce orders or commands“), wofür er das folgende konstruierte Beispiel anführt: Father to daughter: ‚You are going to marry him. And that’s it.‘ Sie enthielten öfter Elemente, welche „immediacy or urgency“ signalisierten (going-to-Futur, now, right away, etc.), was auch auf das Deutsche zutreffen dürfte (cf. jetzt in den obigen Belegen). Sowohl im Deutschen (du gibst – gib) als auch im (geschriebenen) Französischen (tu donnes – donne) unterscheiden sich die Indikativund Imperativformen in der 2. Person Singular voneinander; im Englischen sind diese zwar zusammengefallen, aber dank der Subjekttilgung besteht auch hier eine formale Differenz (you give – give). Nur beim Sonderfall der (fakultativ auftretenden) Subjektspronomen beim Imperativ (cf. oben 4.1) wie etwa in You give the first lecture kann eine Ambiguität zwischen einer konstativen (Deklarativsatz) und einer direktiven Lesart (Imperativsatz) entstehen (Huddleston/Pullum 2002: 925f.).

In vielen Sprachen wird für den Ausdruck von Verboten („Prohibitive“) nicht der negierte Imperativ verwendet, sondern es existieren spezifische Ausdrucksformen, z. B. im Lateinischen eine Periphrase mit nolere.noli cantare; noli me tangere), im Italienischen der Infinitiv (non cantare; non mi toccare), im Spanischen der Subjunktiv (No cantes; no me toques). Das Deutsche ist hier vergleichsweise einfacher strukturiert als andere Sprachen. Während man im Deutschen einfach die Negationspartikel hinzufügen muss (Sei höflich → Sei nicht so höflich), muss man im Englischen auf die do-Periphrase rekurrieren (Be polite → *Be not so polite/Don’t be so polite).46

Im Französischen rühren die Schwierigkeiten bei prohibitiver Verwendung nicht bloss von den Negationselementen in Zirkumposition her, sondern auch daher, dass die klitischen Pronomen zum Teil verändert (moi→me), vorangestellt und darüber hinaus auch noch intern umgestellt werden müssen: Montre-le-moi → Ne me le montre pas, aber nicht *Montre-le-moi pas oder *Montre-moi-le pas. Angesichts der Komplexität dieser Operationen ist es nicht verwunderlich, dass es im Alltag oft zu Vereinfachungen kommt.47 Nicht nur wird ne in der gesprochenen Sprache fast durchwegs weggelassen, sondern gelegentlich wird einfach pas an den positiven Imperativ angefügt: brûle-toi pas; blesse-toi pas (statt Ne te brûle pas). Solche umgangssprachlichen Bildungen werden in den Grammatiken aber entweder nicht erwähnt oder sonst als falsch bezeichnet. Die hier herrschende Formenund Registervariation bedarf aber noch der näheren empirischen Abklärung.

Bei keiner anderen Satzart existieren so viele konkurrierende Ausdrucksmöglichkeiten wie bei den Imperativsätzen. Weil Aufforderungshandlungen potentiell gesichtsbedrohend sind, namentlich für den Sprecher, kommen hier mancherlei Höflichkeitsstrategien zum Einsatz, die unterdessen gut untersucht sind. So werden etwa Bitten abgeschwächt durch Modalverben (oft im Konjunktiv II), Modalpartikeln, tags, etc.48 Ebenfalls hier einschlägig sind die mannigfaltigen Formulierungsstrategien für indirekte Sprechakte, z. B. um Hilfe bitten mittels eines Deklarativsatzes, der ein Problem benennt, z. B. Der Koffer ist so schwer → Könnten Sie mir vielleicht den Koffer tragen? oder Der Bus fährt gleich ab → Steigen Sie bitte sofort ein. Die Möglichkeiten zur Formulierung von indirekten Sprechakten sind aber nur schwer generalisierbar und wurden deshalb in unserem vierstufigen Zentrum-Peripherie-Modell nicht mitberücksichtigt.

Ausgehend vom Beleg Steigen Sie ein (ibd.: 178) sollen hier die Ausdrucksmöglichkeiten der Aufforderungshandlungen kurz zusammengestellt werden.

Tabelle 7
Imperativsatz: Zentrum und Peripherie
PROTOTYPSteigen Sie ein.
VARIANTENNun steigen Sie erst mal ein. Dass du mir já (nicht) einsteigst!
KONKURRENZFORMENEinsteigen!/Jetzt bitte einsteigen. Jetzt (wird) erst mal eingestiegen. Jetzt steige jeder erst mal ein.Jetzt rein ins Auto.Du steigst jetzt erst mal ein.
FREIE STILISTISCHE VARIATION: Sie sollten jetzt einsteigen. Würden Sie jetzt bitte einsteigen? etc.

5 Desiderativsatz

Mit dem Desiderativsatz (auch Optativsatz genannt) mit der propositionalen Grundeinstellung „wünschen, dass etwas der Fall sei/wäre/gewesen wäre“ werden bestimmte – in der Regel kontrafaktische – Wünsche49 oder besser: Wunschvorstellungen ausgedrückt, wobei der (mit)transportierte Sprechaktwert in vielen Fällen „Bedauern ausdrücken“ ist (Wäre ich doch bloss zu Hause geblieben! ≈ .Ich bin nicht zu Hause geblieben, was ich jetzt bedaure‘). Die Satzart Desiderativsatz tritt in zwei Spielarten auf, einer Struktur mit Verb-Endstellung (86a) und einer solchen mit Verb-Erststellung (86b):

(86a) Wenn ich bloss zu Hause geblieben wäre! (86b) Wäre ich doch bloss zu Hause geblieben!

5.1 Prototyp und Varianten

Wie bei den Konditionalsätzen (Näf 2021: 124) soll auch hier die wenn-Struktur als Prototyp angesehen werden; diese dominiert nicht bloss zahlenmässig,50 sondern ist auch für den Rezipienten dank dem Einleitewort am schnellsten und eindeutigsten zu erkennen, dies in Verbindung mit satzarttypischen Modalpartikeln (doch, nur, bloss, auch in Kombination: doch nur u. a.), die bei dieser Satzart quasi obligatorisch sind (.Wenn ich zu Hause geblieben wäre!). Die auf diese Satzart spezialisierten „Optativpartikeln“ ermöglichen es, eine Interpretation als vorangestellten Konditionalnebensatz auszuschliessen (Szczepaniak 2013: 750). Die neuere Forschung ist im Übrigen überwiegend der Ansicht, dass für die Satzart Desiderativsatz Modalpartikeln (in erster Linie doch, nur, bloss, cf. auch engl. if only, franz. si seulement) nicht bloss satzartindizierend, sondern satzartkonstituierend sind (dieses Begriffspaar nach Thurmair 2013: 639). Alternativ oder kumulativ kann aber auch die Gradpartikel wenigstens oder eine Interjektion wie ach die Satzart Desiderativsatz (mit)indizieren (Grosz 2013: 159). Bei Schalansky findet sich nur ein einziger Beleg für den Desiderativsatz, und zwar für die wenn-Struktur (87) und mit der Gradpartikel wenigstens:

(87) Wenn es wenigstens nach Grösse ginge (Schalansky 2012: 147)

Die – sprachgeschichtlich ältere – Struktur mit dem Verb im Konjunktiv II in Erstposition soll hier als Variante eingeordnet werden.51 Sie kann zwar als mit der wenn-Struktur synonym angesehen werden, tritt aber deutlich seltener auf und wirkt heute zum Teil schon etwas archaisch. Sie dürfte eher der geschriebenen Sprache angehören. Bei der wenn-Struktur tritt – dies im Gegensatz zur Verb-Erst-Struktur – in seltenen Fällen auch der Indikativ auf: Wenn der bloss zu Hause bleibt! (vs. *Bleibt der bloss zu Hause!) oder Wenn das nur gut geht/ginge/gegangen wäre! Da wir Desiderativsätze im Indikativ als weniger zentral ansehen, sollen sie hier zu den Varianten gestellt werden. Prototypisch für den Desiderativsatz sind Konstruktionen mit Konjunktiv II Plusquamperfekt (Wenn ich bloss nicht hingegangen wäre!), die generell kontrafaktische Wunschvorstellungen ausdrücken, während mit den Konjunktiv-II-Sätzen sowohl unerfüllbare oder „irreale“ (Wenn ich nur zwanzig Jahre jünger wäre!) als auch erfüllbare Wünsche (Wenn ich nur etwas mehr Zeit dafür hätte!) formuliert werden können.

5.2 Konkurrenzformen

Zu den Konkurrenzformen kann man die Deklarativsätze im Konjunktiv II rechnen, die den Sprechaktwert Bedauern ausdrücken. So lässt sich etwa der Deklarativsatz-Beleg (88) in einen Desiderativsatz (88a) umwandeln. Für die Wiedergabe der englischen If-onlyund der französischen Si-seulement-Sätze wird im Übrigen oft auf einen Deklarativsatz mit dem explizit performativen Verb wünschen im Konjunktiv II zurückgegriffen: If only I’d listened to my parents!: Si seulement j'avais écouté mes parents! . Ich wünschte, ich hätte auf meine Eltern gehört.

(88) Aber du hättest wohl ein wenig früher anfangen müssen (ibd.: 45). (88a) Hättest du doch bloss ein wenig früher angefangen!

Unter die freie stilistische Variation sollen etwas ferner stehende Konstruktionen gestellt werden, die im Indikativ stehen und bei denen der Sprechaktwert des Bedauerns im Wesentlichen durch lexikalische Mittel oder explizit performative Formeln getragen wird, mit jeweils „umgedrehter“ Affirmation bzw. Negation (Wäre ich bloss nicht zu Hause geblieben . Ich bin leider zu Hause geblieben).

(89a) Ich habe leider zu spät angefangen.

(89b) Schade, dass ich nicht früher angefangen habe. (89c) Ich bedaure, nicht früher angefangen zu haben.

Tabelle 8
Desiderativsatz: Zentrum und Peripherie
PROTOTYPWennich doch bloss zu Hause geblieben wäre!
VARIANTENWäreich doch bloss zu Hause geblieben. Wenn der bloss zu Hause bleibt!
KONKURRENZFORMENIch wäre besser zu Hause geblieben.Ich wünschte, ich wäre zu Hause geblieben.
FREIE STILISTISCHE VARIATIONLeider bin ich nicht zu Hause geblieben. Ich bedaure, nicht zu Hause geblieben sein.Schade, dass ich nicht zu Hause geblieben bin. Ich hätte besser daran getan, zu Hause zu bleiben. etc.

6 Exklamativsatz

Der Exklamativsatz ist diejenige deutsche Satzart, bei der sich die grösste Formenvielfalt beobachten lässt, weshalb wir ihr hier trotz ihrer relativen Marginalität etwas mehr Platz einräumen wollen.52 Als gemeinsames Charakteristikum aller einschlägigen Strukturen kann man das Sich-Wundern über eine Normabweichung auffassen. Die propositionale Grundeinstellung der Exklamative haben wir in Tabelle 1 so umrissen: „mit Nachdruck sagen, dass bzw. wie sehr etwas der Fall ist – über die Erwartung hinaus“. Ganz analog zur Argumentation oben beim Interrogativsatz wollen wir auch hier dem Ansatz von zwei Prototypen den Vorzug geben. Auch wenn in einzelnen Fällen schwierig, erweist sich eine Unterscheidung zwischen Fakt-Exklamativen (6.1) und Grad-Exklamativen (6.2) als sinnvoll und nützlich.53 Bei den ersten ist es für den Sprecher unerwartet, dass der Sachverhalt überhaupt existiert (Dass du immer optimistisch bist!), bei den zweiten dagegen dessen Grad oder Ausmass (Wie optimistisch du bist!).54 Meist wird angenommen, dass Exklamativsätze im Prinzip keine neue Sachinformation liefern, sondern den Inhalt der Proposition als für Sprecher und Adressaten gemeinsames Hintergrundswissen präsupponieren und diesen gleichzeitig als unüblich oder unerwartet qualifizieren.

Wenn ein Sprecher zu diesem expressiven, phonetisch durch einen charakteristischen Exklamativakzent (Intonation, Betonung) gekennzeichneten Sprachmittel greift, drückt er damit sein Erstaunen über einen so nicht erwarteten Sachverhalt aus, z. B. Mensch, war das ein Frust! (demgegenüber kaum sprachgerecht: .Mensch, war das ein ganz normaler Frust!). Der prototypische Sprechaktwert der Deklarativsätze ist die Assertion, durch die ein Sachverhalt als wahr hingestellt wird; demgegenüber wird bei den Exklamativsätzen der propositionale Gehalt nicht thematisiert, sondern implizit als gegeben hingestellt und auf emphatische Weise als überraschend beurteilt. Man kann hier also nur in einem indirekten Sinn von Assertionen sprechen.55 Dieser indirekt assertive Charakter hat aber immerhin zur Folge, dass Grad-Exklamative – naturgemäss müssen diese ein graduierbares Prädikat enthalten – nicht auf eine negierte Proposition appliziert werden können: *Mensch, war das kein Frust!. Diese beiden Einschränkungen gelten dagegen nicht für die Fakt-Exklamative: Dass du nicht frustriert bist!.

Infolge der grossen Formenvielfalt ist es nicht leicht, die Satzart Exklamativsatz grammatisch in den Griff zu bekommen. Falls der bei Schalansky vorliegende Befund repräsentativ ist, ergibt sich aber für diese Satzart qualitativ und quantitativ betrachtet ein etwas anderes Bild, als dieses in den massgeblichen Grammatiken des Deutschen gezeichnet wird.

Die Frage ist nun zunächst, welche Struktur man als Prototyp ansehen will. Analog zur Lösung beim Interrogativsatz sollen auch hier zwei Prototypen angesetzt werden, und zwar die jeweils frequentesten und darüber hinaus durch einen auffälligen Marker gekennzeichneten Strukturen: für die Fakt-Exklamative der Dass-Exklamativsatz (Dass der verliebt/verheiratet ist!) und für die Grad-Exklamative der Wie-Exklamativsatz (Wie verliebt/*verheiratet der ist!).

6.1 Fakt-Exklamativ: Prototyp und Varianten

Zunächst zur selteneren Unterart, den Fakt-Exklamativen. Diese in Schalanskys Roman mit 29 dass-Exklamativsätzen gut vertretene Struktur soll hier als Prototyp für die Fakt-Exklamative gelten.56 Die Belege drücken zwar alle ein Erstaunen über einen unerwarteten Sachverhalt aus; nicht selten wird diese propositionale Grundeinstellung jedoch überlagert von spezifischeren Sprechaktwerten wie Kritik üben, missbilligen, Verärgerung oder Enttäuschung ausdrücken:57

(90) Dass sie nicht früher darauf gekommen war! (ibd.: 155).

(91) Dass sie noch nie daran gedacht hatte (ibd.: 165).

(92) Dass er es einfach nicht lassen konnte (ibd.: 49).

(93) Dass Wolfgang immer dachte, es ginge nicht ohne ihn. (ibd.: 88).

(94) Dass er alles immer persönlich nehmen musste (ibd.: 143).

(95) Dass er das nicht einsah (ibd.: 145).

Gewiss, mit Blick auf die Einfachheit der Konstruktion hätte man auch in Betracht ziehen können, den Verbzweit-Satzals Prototyp anzusehen. Aber einfach und unmarkiert ist diese Konstruktion bloss in ihrer schriftlichen Form, wo der Exklamativakzent ja nicht notiert werden kann. Da dieser Typ aber kein charakteristisches Strukturwort enthält, ist er nur schwer von den Deklarativsätzen, vor allem den emphatischen Deklarativsätzen, abzugrenzen, mit denen er ja abgesehen von der Intonation – identisch ist. Diese formale Nähe ist auch der Grund dafür, dass eine automatische Extraktion der einschlägigen Belege aus einem digitalisierten Grosskorpus bisher nicht möglich ist. Im Übrigen scheint diese Struktur in der geschriebenen Sprache gemieden zu werden. Der Grund dafür könnte sein, dass hier der – in der Mündlichkeit durch die Satzintonation garantierte – „Sicherheitsabstand“ zu den Deklarativsätzen zu klein ist.58 Bei Schalansky kann man gerade mal zwei Belege dafür finden, für die eine Klassifizierung als Exklamativsatz in Erwägung gezogen werden kann, wobei die Modalpartikeln sowie die Interjektion bei (96) einen Fingerzeig für die intendierte Intonation bieten. Diese Struktur, die offenbar eine Affinität zur Mündlichkeit hat und weder von ihrer Frequenz noch von ihrer Salienz her hervorsticht, soll hier zu den Varianten gestellt werden.

(96) „Mann, ihr seid ja wirklich noch voll drin“ (ibd.: 145).

(97) „Jetzt habe ich doch glatt vergessen, dass ich kein Fleisch mehr esse“ (ibd.: 160).

Gelegentlich ist es aber schlicht nicht möglich, zu entscheiden, ob ein (emphatischer) Deklarativsatz oder ein Exklamativsatz vorliegt.59 Je nach intendierter Intonation lässt sich ein Satz wie Das hatte ein Gerede gegeben (ibd.: 30) als Exklamativsatz auffassen (Substitutionstest: Hatte das ein Gerede gegeben!); im gegebenen Kontext erscheint jedoch eine Interpretation als Deklarativsatz wahrscheinlicher. Auch in Fällen wie Die armen Tiere waren doch tot! (ibd.: 47) mit dem Sprechaktwert „etwas einwenden, widersprechen“ handelt es sich eindeutig um einen Deklarativsatz. Modalpartikeln sind in Verb-Zweit-Exklamativen zwar bloss fakultativ, aber es herrscht offenbar eine komplementäre Verteilung. In Grad-Exklamativen (vom Typ Das ist aber eine gute Nachricht! . Du kannst das aber gut!) sind aber, vielleicht und aber auch möglich, aber nicht obligatorisch, in Fakt-Exklamativen dagegen ja und doch .„Ah, da seid ihr ja!“).60

Deklarativsätze und Exklamativsätze, die sich nur durch die Intonation unterscheiden, scheinen für das Deutsche typisch zu sein: |Die ist naiv|: Die ist naivvs. Die ist (aber) naiv! In anderen Sprachen kommen sich die jeweiligen Strukturen formal weniger nahe, indem für die Lesart Exklamativsatz andere Ausdrucksmittel mobilisiert werden, z. B. engl. She is naïve vs. How naïve she is! oder franz. Elle est naïve vs. Qu’est-ce qu’elle est naïve! Eine Struktur wie |Das war ein Schuss| kann natürlich ein Deklarativsatz sein: Was war das für ein Geräusch? – Das war ein Schuss. Als Kommentar in der Apfelschussszene in Schillers Wilhelm Tell handelt es sich dagegen eindeutig um einen Exklamativsatz,61 in dem neben Erstaunen auch Bewunderung über diesen Meisterschuss mitklingt: Das war ein Schuss! (Schiller 1804/1966: 613), engl. What a shot!,62 franz. En voilà un coup!. In der gleichen Szene, wenige Verse davor, reagieren auch andere Augenzeugen auf diesen Schuss, etwa Stauffacher: Der Apfel ist gefallen! .The apple’s down!) oder Rösselmann: Der Knabe lebt! .The boy’s alive!). Auch wenn diese Äusserungen in höchster Erregung erfolgen (cf. Ausrufezeichen; Regieanweisung ruft), wird man diese am besten als – emphatische – Deklarativsätze (Grundeinstellung: „sagen, dass etwas der Fall ist“) einstufen. Es handelt sich hier um Feststellungen, mit ganz normaler Thema-RhemaAbfolge, während bei Das war ein Schuss! das – den Augenzeugen ja bereits bekannte – Geschehen kommentiert wird, wofür der Exklamativsatz ein geeignetes Vehikel darstellt. In diesen geht es ja nicht oder zumindest nicht primär um die Assertion eines Sachverhalts – dieser wird vielmehr präsupponiert –, sondern um dessen Qualifizierung, hier als beinahe unglaubliche Meisterleistung. Anders verhält es sich dagegen bei der verbalen Reaktion auf Tells zweiten Armbrustschuss, aus dem Munde des vom Pfeil getroffenen und vom Pferd stürzenden Gessler: Das ist Tells Geschoss (ibd.: 635), ein bezüglich Grundeinstellung, Intonation und Informationsstruktur ganz „normaler“ Deklarativsatz (engl. That shot was Tell’s, franz. C’est la flèche de Tell).

6.2 Grad-Exklamativ: Prototypen und Varianten

In der geschriebenen Sprache – dies das Resultat mehrerer empirischer Studien – ist der wieExklamativsatzdie bei weitem dominierende Struktur, ein Befund, der auch auf den Roman von Schalansky zutrifft. Dessen Charakteristikum ist das Auftreten des satzeinleitenden quantopere-wie.63 Diese Struktur soll hier als Prototyp für die Grad-Exklamative angesehen werden.

Bei Schalansky treten insgesamt 82 verbale Exklamativsätze auf, wovon 40 auf den wie-Exklamativsatz entfallen. 64 Zu diesen 82 Belegen lässt sich allgemein noch Folgendes festhalten (es kann sich dabei natürlich auch bloss um idiolektale Vorlieben der Autorin handeln): Fast alle weisen Endstellung des Verbs auf, 65 Sie haben fast ohne Ausnahme einen Punkt (und nicht ein Ausrufezeichen) als Satzschlusszeichen, und die meisten treten in der Erzählerrede auf. In der Mehrheit der Belege wird nicht das Verb graduiert, sondern ein Adjektiv. 66 Und noch etwas ist mit Blick auf die bisherige Forschung bemerkenswert: Modalpartikeln treten ausgesprochen selten auf (insgesamt bloss vier Belege, z. B. (101)). Dies kann man als ein Indiz dafür interpretieren, dass der deutliche Marker wie bereits für sich allein imstande ist, die Satzart anzuzeigen.

(98) Wie gut das tat (Schalansky 2012: 12).

(99) Wie unordentlich er aussah (ibd.: 81).

(100) Wie milde die Stimme klang (ibd.: 103).

(101) Wie geordnet doch alles war (ibd.: 216).

(102) Wie gut es roch (ibd.: 217).

(103) Wie müde sie auf einmal war (ibd.: 53).

(104) Wie eingebildet dieses Mädchen war (ibd.: 73).

In den Exklamativsätzen wird jeweils ein hoher Ausprägungsgrad eines Sachverhalts zum Ausdruck gebracht, unabhängig davon, ob an der „Oberfläche“ ein intensivierendes oder qualifizierendes Lexem auftritt oder nicht. Im letzteren Fall ist es die Aufgabe des Rezipienten, das „fehlende“ Element aus dem Ko(n)text zu erschliessen. Dabei kann es sich neben den häufigen Intensitätsangaben – ‚sehr‘ wie in (105) kann man als Default-Wert ansehen – auch um Spezifizierungen qualitativer Natur handeln, in (106) etwa ‚nachlässig, gelangweilt‘: Der Folgesatz lautet nämlich: Ein schlaffer Sack.

(105) Wie [...] sie das genoss (ibd.: 158).

(106) Wie ...] Tom wieder dasass (ibd.: 106).

Man kann erwägen, für die Grad-Exklamative zwei Prototypen anzusetzen (cf. unten Tabellen 9 und 10), dies weil die wie-Strukturen und die was für (ein)-Strukturen eine syntaktisch bedingte komplementäre Distribution aufweisen und damit im Grunde genommen bloss Varianten voneinander sind: Bei der ersten ist das Element, auf das sich die Abweichung von einer Erwartungsnorm bezieht, ein Verb (Wie der gewachsen ist!) oder ein Adjektiv (Wie gross der ist!), bei der zweiten ein Nomen (Was für ein Hüne der ist!). Für die Struktur mit dem Determinativ was für (ein) gibt es bei Schalansky insgesamt 7 Belege; diese scheint – wie auch ihr Pendant im Englischen – überwiegend bei verblosen Sätzen aufzutreten, cf. (107) und (108).67 Die damit konkurrierende Struktur mit welch (ein) ist im heutigen Deutsch veraltet (bloss ein Beleg bei Schalansky).68

(107) Was für ein Schwachsinn! (ibd.: 47).

(108) Was für eine Show (ibd.: 50).

(109) Was für grosse Zähne die Schwanneke hatte (ibd.: 158).

Werfen wir auch hier kurz einen Seitenblick auf die Verhältnisse im Englischen. Auch in der anglistischen Forschung besteht keine Einigkeit darüber, wie weit oder wie eng die Kategorie Exklamativsatz gefasst werden soll. Die massgeblichen Grammatiken des Englischen69 haben sich aber für eine restriktive Verwendung dieses Terminus entschieden. Sowohl Collins (2005) als auch Siemund (2018) rechnen nur die howund die what-Sätze dazu, weil nur bei diesen die Illokutionskraft grammatikalisiert sei. Die breit gestreute Korpusstudie von Collins hat insgesamt 1505 howund 556 what-Belege zu Tage gefördert.70 Während das quantopere-how71 typischerweise in verbalen Sätzen und in geschriebener Sprache auftritt (How right he was!), hat what a(n) eine Affinität zur gesprochenen Sprache und zu verblosen („elliptical“) Verwendungen (What a lovely car!). Zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt auch Siemund (2018: 279– 283): Bei den 703 what-Sätzen dominiert der elliptische Gebrauch (What a blizzard!) mit 79%, während bei den 645 how-Sätzen die Verteilung auf reduzierte (How awful!, 46%) und verbale Strukturen (How he bled!, 54%) ziemlich ausgeglichen ist.

Als Variante des wie-Prototyps kann man die – allerdings viel seltenere – Struktur mit quantopere-was auffassen, die bei Schalansky allerdings nicht belegt ist (z. B. Was der stur sein kann).72 Im Weiteren sollen gleich wie oben beim Interrogativsatz alle verblosen Grad-Exklamative (z. B. Wie entsetzlich!) bei den Varianten des Prototyps eingeordnet werden.73

Eine – bislang in den Grammatiken des Deutschen noch nicht gebuchte – Variante des Exklamativsatzes scheint in letzter Zeit immer mehr an Boden zu gewinnen, und zwar auf Kosten der was-für-ein-Struktur: das Konstruktionsmuster Dieser+(Adj.)+Nomen. Bei Schalansky ist dieses mit 18 Belegen deutlich häufiger belegt als die was-für-ein-Struktur, z. B.

(110) Dieses Gerede (ibd.: 177).

(111) Diese Zähne (ibd.: 159).

(112) Dieser Kopf. Schon für die Geburt zu riesig (ibd.: 171).

(113) Diese endlosen fünfundvierzig Minuten (ibd.: 207).

Man kann diese Struktur als „Thema ohne Rhema“ ansehen. Mit den prototypischen Exklamativsätzen teilt sie die – im Mündlichen vor allem durch die Intonation getragene – propositionale Grundeinstellung, aber der Sprecher überlässt es hier der Einbildungskraft des Adressaten, die Äusserung zu vervollständigen, was dank Ko(n)text und Weltwissen meist problemlos möglich ist. Die Abweichung von einer Norm kann verschiedene Aspekte betreffen, in (111) etwa die Grösse, das Hervorstehen oder die Farbe der Zähne (Der Folgesatz lautet: Zum Fürchten). Auch die Äusserung (112) ist für sich allein betrachtet nicht eindeutig; durch den Folgesatz wird aber sogleich klar, dass es hier um die überdurchschnittliche Grösse des Kopfes geht, während in

(113) die rhematische Information im qualifizierenden Adjektiv enthalten ist.

Die beiden Konstruktionsmuster was-für-ein+Nomen und dieser+Nomen scheinen im heutigen Deutsch weitgehend gegeneinander austauschbar zu sein: Was für eine Aussicht! vs. Diese Aussicht! Es könnte sein, dass mit dem deiktischen Determinativ dieser ursprünglich vor allem auf „Gegenstände“ verwiesen wurde, die sich im Wahrnehmungsfeld des Sprechers befanden.74 Mit einer Nominalgruppe kann man normalerweise bloss auf einen Gegenstand referieren; damit ein Satz im Sinne einer abgeschlossenen Sinneinheit entsteht, muss ein prädikatives Element (Verb, Adjektiv, u. a.) dazukommen, und das Resultat ist ein Deklarativsatz, z. B. Diese Aussicht ist atemberaubend. Bei der satzwertigen Exklamativsatz-Variante Diese Aussicht! ist die Prädikation dagegen bloss implizit, und es ist das Konstruktionsmuster als solches, das – über die Bedeutung der Lexeme hinaus – transportiert, dass es sich bei X (Aussicht, Sonnenuntergang etc.) qualitativ und/oder quantitativ um ein ganz besonderes X handelt.75 Diese Interpretation lässt sich auch dadurch stützen, dass Diese Aussicht! nicht mit einem Folgesatz wie *Die war überhaupt nichts Besonderes kompatibel ist.

Instruktiv sind die drei folgenden Belege mit der Nominalgruppe dieser Gestank aus dem Roman: Neben Dieser Gestank (ibd.: 131) mit impliziter Prädikation findet man die gleiche Idee es ist im Kontext vom widerlichen Geruch der Früchte des Ginkgo-Baumes die Rede – auch durch einen „normalen“ Deklarativsatz ausgedrückt: Dieser Gestank war wirklich bestialisch (ibd.: 154) sowie im Beleg Unerträglich, dieser Gestank! (ibd.: 156) durch einen segmentierten Deklarativsatz mit expressiver Rhema-Thema-Abfolge. Wie bei den prototypischen wie-Exklamativsätzen kann auch hier die Charakterisierung in Form eines konnotierten Nomens (Gerede, ibd.: 177; Geschrei, ibd.: 95) oder eines Adjektivs explizit ausgedrückt sein kann, z. B. in Dieser stechende Blick (ibd.: 73), oder aber sie kann fehlen und muss dann durch den Rezipienten aus dem Ko(n)text erschlossen werden, wie in Dieser Blick. (ibd.: 159).

Auch wenn bei Schalansky nicht belegt, dürfte auch das deiktische Determinativ der in dieser Funktion vorkommen, vor allem in der Mündlichkeit: Die Aussicht! Je nach unterstellter Intonation kommt etwa beim Kurzsatz „Die armen Tiere.“ (ibd.: 161) eine Lesart als ExklamativStruktur in Frage (‚Was sind das für arme Tiere!’). Andere Determinative können in diesem Konstruktionsmuster dagegen wohl kaum auftreten: .Meine Aussicht!; .Jene Aussicht!.

Auch hier sei ein kurzer Seitenblick auf die diesbezüglichen Verhältnisse im Französischen und Englischen gestattet. Auch im Französischen existiert die entsprechende Struktur mit dem demonstrativen Determinativ ce/cette. Während das prototypische quel in exklamativer Verwendung (Quelle chance (vous avez)!; Quelle puissance!) in allen Grammatiken figuriert, ist die damit konkurrierende Struktur Cette puissance! erst vor kurzem in das Blickfeld der Forschung geraten. Durch gezielte Suchabfragen im Frantext-Korpus konnten die Verwendungsbedingungen dieser Konstruktion unterdessen präziser gefasst werden (Gachet/Corminboeuf 2012). Während die Struktur mit Definitivartikel fast immer von einem (restriktiven) Relativsatz gefolgt wird (Typ La chance qu’on a eu!),76 ist ein solcher beim Demonstrativum zwar möglich, aber untypisch: Cette chance! Die gleiche Präferenz dürfte vermutlich auch für das Deutsche zutreffen: Dieses Glück! vs. Das Glück, das wir hatten! Im Französischen gibt es darüber hinaus noch die Struktur un(e) de ces + Nomen: On a eu une de ces chances! ‚Wir haben unwahrscheinliches Glück gehabt’. Man kann diese als alternative Ausdrucksweise zu den exklamativen Le/Ce-Nominalgruppen auffassen, z. B. La peur que tu nous as fait! neben Tu nous as fait une de ces peurs! Beide drücken einen hohen Grad aus und werden im Deutschen unter anderem durch Deklarativsätze (Du hast uns ganz schön Angst gemacht), durch Exklamativsätze (Hast du uns aber einen Schrecken eingejagt!), aber auch durch Wortbildungsmittel (Höllenangst, Riesenschrecken, etc.) wiedergegeben.

Auch im Englischen existiert die Struktur mit Definitivartikel und restriktivem Relativsatz, in der Regel mit Wegfall des Relativpronomens, z. B. The luck we had!, The cars he drives! ‚Was der für Autos fährt!’ oder The things he eats!, im Deutschen entweder durch eine analoge Struktur ‚Die Sachen, die der isst!’ oder wohl eher durch einen verbalen Exklamativsatz wiedergegeben: ‚Was der nicht alles isst!’ oder ‚Was der für komische Sachen isst!’ Sie wird von einem Teil der Forscher zu den Exklamativsätzen gerechnet (cf. Siemund 2018: 289 und Collins 2005: 5). Auch in der Cambridge Grammar werden diese satzwertigen Äusserungen gebucht, unter der Rubrik „extraposable NPs“, z. B. The money he spends on clothes! oder The way he treats his wife!, mit dem Hinweis, dass diese über die exklamative Grundeinstellung (It’s amazing …) hinaus meistens den Sprechaktwert Missbilligung transportieren (Huddleston/Pullum 2002: 924).

Während das quantopere-was als Partikel zu klassifizieren ist, hat dieser Wortkörper in den Was-(nicht)-alles-Sätzen (7 Belege bei Schalansky) Satzgliedwert. Die – nicht-negierende – Partikel nicht ist dabei fakultativ, i. e. in (114) und (115) weglassbar bzw. in Fällen wie (116) frei hinzufügbar, bei bloss geringen, aber subtilen Bedeutungsunterschieden.77

(114) Was wurde nicht alles verkündet (ibd.: 142).

(115) Was es nicht alles gab! (ibd.: 11).

(116) Was jetzt [] alles nicht mehr erlaubt war (ibd.: 47).

Ebenfalls zu den Varianten soll hier der Verb-Erst-Exklamativsatz vom Typ (Mensch,) ist der stur! gerechnet werden. Über die Auftretensfrequenz dieser – sprachgeschichtlich betrachtet relativ jungen – Struktur lässt sich derzeit nichts Verlässliches sagen. Vermutlich ist sie vor allem in der Mündlichkeit verbreitet, was das auffällige Faktum erklären könnte, dass sich bei Schalansky kein einschlägiger Beleg findet. Öfter wird dieser Struktur eine Interjektion oder ein interjektionsartiger „Vorschlag“ wie z. B. (Mein) Gott, Herrgott, Himmel, Mensch, Mann, Verdammt, Wow, Hey, vorangestellt.78 In Werken mit weniger hohem literarischem Anspruch sind Verb-Erst-Exklamativsätze anteilmässig stärker vertreten, etwa im autobiographischen Roman von Wermuth, wo übrigens alle einschlägigen Belege ein Vorlaufelement aufweisen, zum Beispiel Gott, lagen meine Nerven blank (Wermuth 2007: 168); Herrje, war mir das peinlich(ibd.: 123); Ach, bin ich dumm“, dachte ich (ibd.: 186).

Die analoge Struktur im Englischen – bekannt geworden durch McCawleys Aufsatztitel Boy! Is syntax easy! (1973) – tritt zwar seltener auf als die prototypischen howund what-Exklamativsätze, scheint aber zumindest in der gesprochenen Sprache ziemlich produktiv zu sein, mit Vorlaufelementen wie Wow, Man, God, Gosh, Lord, Boy, Jesus, Gee etc.79 Sie wird von einzelnen Forschern als pathetischer („more dramatic“) angesehen als die konkurrierenden Ausdruckweisen.80 In Salingers Roman The Catcher in the Rye, einem 1951 erschienenen, stark umgangssprachlich eingefärbten Klassiker der Moderne, tritt sie insgesamt 27mal auf, wobei 25mal das – eventuell bloss idiolektal für diesen Autor typische – Vorlaufelement Boy! auftritt, z. B. Boy, was I excited (Salinger 1951: 40); Boy, was she crumby! (ibd.: 81), Boy, was I drunk (ibd.: 195); Boy, did I feel rotten (ibd.: 63); Boy, did he depress me! (ibd.: 219). Die Verbstelle ist in zwei Dritteln der Belege mit dem Auxiliarverb to be besetzt,81 beim Rest der Fälle handelt es sich um Vollverben mit der do-Periphrase und in einem Fall um ein Modalverb: God, could that dopey girl dance. (ibd.: 93). Ein Indiz dafür, dass die Verb-Erst-Struktur einen gesteigerten Grad der Emotionalität transportiert, lässt sich etwa aus der folgenden Satzsequenz ableiten:

„Well, I hate it. Boy, do I hate it,“ I said (ibd.: 169). In den Grammatiken des Englischen werden diese Strukturen meistens nicht als Exklamativsätze angesehen, sondern wegen der gleichen Wortfolge (Was I excited?; Did he depress me?) zu den Interrogativsätzen gestellt. So eröffnen etwa Quirk et al. (1972: 400f.) eine eigene Rubrik „Minor types of questions“ mit den beiden Unterkategorien „exclamatory question“ (Has she grown!) und „rhetorical question“ (Hasn’t she grown!). Huddleston (1993) plädiert dafür, den Unterschieden zwischen den Interrogativsätzen und den exclamatory-inversion sentences nicht auf der grammatischen, sondern auf der pragmatischen Ebene Rechnung zu tragen. Wegen der völlig unterschiedlichen propositionalen Grundeinstellungen von Interrogativund Exklamativsätzen scheinen uns diese Lösungen aber nicht befriedigend. Im Gegensatz zu den rhetorischen Fragen drücken die Exklamative einen hohen Grad aus und richten sich nicht – wie die rhetorischen Fragen – an einen Adressaten, dessen Zustimmung sie suchen. In der Terminologie von Karl Bühlers OrganonModell (1934) ausgedrückt: Die ersten haben eine Ausdrucksfunktion (Am I hungry!; Are you hungry!), die zweiten eine Appellfunktion (Are you hungry?).

Zu den mannigfachen Spielarten der Exklamation im Französischen nur dies: Bemerkenswert ist hier, dass die Verb-Erst-Struktur (Est-elle charmante!) – in diametralem Gegensatz zum Deutschen und Englischen – der gepflegten Schriftsprache angehört und leicht archaisch wirkt. Der Default-Wert im heutigen Französisch ist die comme-Struktur (Comme elle est charmante!), während ce que und qu’est-ce que in der familiären Umgangssprache dominieren: Ce qu’elle est charmante! (Gérard 1980: 4, 42, 47).

Die jüngste sprachliche Struktur aus dem Exklamativfeld, der Typ Wie+ADJ ist das denn (Wie geil ist das denn!), dringt seit Anfang des 21. Jahrhunderts langsam in das geschriebene Deutsch vor. Bei Schalansky findet sich jedoch kein einschlägiger Beleg. Gemäss den Ergebnissen einer empirischen Untersuchung von Auer handelt es sich bei Wie [ADJ] ist das denn! um eine hochgradig verfestigte Struktur: an der Subjektstelle steht fast immer das Determinativ das,82 dieses trägt den (fallenden) Satzakzent, die Modalpartikel denn steht in Endposition, und beim Adjektiv handelt es sich typischerweise um ein positiv (geil, cool, etc.) oder vor allem negativ (peinlich, doof, bescheuert, krank, schräg, perfid, naiv, etc.) bewertendes Lexem.83 Der Hauptunterschied zu den wie-Interrogativsätzen (Wie krank ist er denn?) ist neben dem Intonationsmuster deren – irritierende und gewöhnungsbedürftige – pragmatische Funktion. Mit Wie krank ist das denn! scheint der Sprecher zwar nach einem Sachverhalt zu fragen – denn ist ja typisch für Interrogativsätze –, de facto drückt er aber seine Überraschung darüber aus, wie stark der durch das Adjektiv bewertete Sachverhalt zutrifft (‚Das ist sehr krank‘).84

6.3 Konkurrenzformen

Als Konkurrenzform der verblosen Was-für-ein-Sätze soll hier die Struktur So-ein+Nomen aufgefasst werden. Auch wenn die Partikel so zwischen qualitativer (‚so geartet, so beschaffen‘)85 und quantitativer (‚so gross, so stark‘) Bedeutung zu oszillieren scheint, dürfte bei dieser Konstruktion die qualitative Lesart am Verblassen sein, zugunsten derjenigen eines Intensifikators (‚sehr‘); für diese Verwendung der Partikel so soll hier der Terminus tantopere-so eingeführt werden. Eine Formulierung wie in Beleg (107) Was für ein Schwachsinn! ist offensichtlich gegen diejenige von (117) substituierbar. Als Nomina treten in diesem Konstruktionsrahmen überwiegend nichtneutrale bewertende Lexeme auf: Was für ein bzw. So ein → Zufall/Frust/Unsinn/Stuss/Quatsch/Mist/Schlamassel/Affentheater, etc.86

(117) So ein Schwachsinn (ibd.: 141).

(118) So ein Geschichtenschmarotzer (ibd.: 49).

Bei den Konkurrenzformen sollen auch die verbalen Deklarativsätze mit tantopere-so eingeordnet werden. Deklarativsätze mit so+Adverb/Adjektiv sind – was den Ausdruck eines hohen Grads betrifft – weitgehend gegen entsprechende wie-Exklamativsätze austauschbar (wie oft/wie viel/wie lange . so oft/so viel/so lange etc.), z. B. (119) gegen (119a). Bei einem Beleg wie (120) drückt so früh – wie in einem entsprechenden Exklamativsatz – eine Abweichung von einer allgemeinen Norm aus („Der Tod des Vaters erfolgte viel früher als man dies hätte erwarten können“). Weniger eng ist dieser Konnex, wenn im Deklarativsatz kein tantopere-so auftritt, z. B. in (121); hier fehlt eben die von der Exklamativsatz-Struktur wie in (121a) getragene Emphase.

(119) So vieles war noch unerforscht (ibd.:172).

(119a) Wie vieles war noch unerforscht!

(120) Vater war so früh gestorben (ibd.: 152).

(121) Sie war oft mit ihm unterwegs gewesen (ibd: 152). (121a) Wie oft war sie mit ihm unterwegs gewesen!

In der französischen Grammatiktradition werden die Bildungen mit si und tellement .Il fait si/ tellement beau!) meistens als Exklamativsätze aufgefasst (‚Es herrscht ungewöhnlich schönes Wetter’).87 Auch im Englischen sind emphatische Sätze mit tantopere-so weit verbreitet, z. B.

„Oh, I’m so glad!“ (Salinger 1951: 144) oder Boy, I felt so damn tired all of a sudden (ibd.: 245), und auch hier werden sie zum Teil als Exklamativsätze angesehen, z. B. He was so rude! (cf. dazu Collins 2005: 5). In der Cambridge Grammar werden die entsprechenden Konstruktionen mit so oder such unter der etwas paradoxen Kategorie „Non-exclamative exclamations“ gebucht, z. B. So much remains to be done! oder She hated it so! (Huddleston/Pullum 2002: 923). Es erscheint uns aber angemessener, diese Strukturen als – emphatische – Deklarativsätze zu kategorisieren, die als alternative Ausdrucksweisen für Exklamativsätze (How rude he was!) verwendet werden können.

Zu den Konkurrenzformen sollen hier auch zwei illokutiv selbständige Konstruktionen gerechnet werden, welche die Ausdrucksform eines Nebensatzes (mit Subjunktion und Verb-Endstellung) aufweisen, sich aber von einem solchen durch Akzentuierung und Intonation unterscheiden, nämlich die Und-obund die Wenn-das-Struktur.

(122) Und ob das ein Frust war!

(123) Wenn das kein Frust war!

Beide Konstruktionsmuster transportieren im Prinzip die gleiche emphatische Aussage („Das war ein sehr grosser Frust!“) und scheinen weitgehend komplementär verteilt zu sein. Durch Und ob werden emphatisch bejahende Assertionen eingeleitet (kaum möglich: .Und ob das kein Frust war!), durch Wenn d(as) – zumindest prototypisch – negierte.88 Zumindest bei der WennStruktur ist eine Entstehung aus einem Satzgefüge – bei weggefallenem Matrixsatz – plausibel („Wenn das kein Frust ist, dann weiss ich nicht mehr, was man unter diesem Wort noch verstehen soll“).89 Der Sprecher signalisiert mit dieser Struktur, dass es sich hier sozusagen um ein Schulbeispiel für das betreffende Phänomen handelt. Nach d’Avis (2013: 179) sind die Undob-Sätze keine Exklamativsätze. Für diese Sicht der Dinge spricht, dass es hier nicht – oder mindestens nicht zentral – um eine Erwartungsabweichung geht, sondern um eine nachdrückliche Beteuerung. Im Vordergrund steht in den meisten Verwendungen der Sprechaktwert „etwas zurückweisen“, etwa als Antwort auf Das war doch kein Frust. Andererseits wird aber durch diese Struktur wie durch den prototypischen Exklamativsatz (Was das für ein Frust war!) eine nachdrückliche, emphatische Assertion ausgedrückt, und dem hohen Grad auf der einen Seite entspricht das Schulbeispiel auf der andern. Das hier vorgeschlagene Modell einer abgestuften Zugehörigkeit zu einer Kategorie erlaubt es, auch weniger zentralen Konstruktionen wie der hier diskutierten einen Platz zuzuweisen

Ebenfalls zu den Konkurrenzformen sollen schliesslich die – relativ frequenten – Deklarativsätze mit expressiver Wortstellung gestellt werden, vor allem jene mit einem prädikativen Nomen oder Adjektiv im Vorfeld,90 z. B.

(124) Erpressung war das (ibd.: 130, 163, 169).

(125) Geschichtsverfälschung ist das! (ibd.: 147).

(126) Schlecht siehst du aus, Lohmark (ibd.: 171).

(127) Richtig erwachsen sah sie aus (ibd.: 103).

Eher der gesprochenen Sprache gehören dagegen segmentierte Sätze mit Linksversetzung eines meist bewertenden – prädikativen Elements an. Sätze wie Genial, diese Idee! und franz. Géniale, cette idée! kann man als Konkurrenzformen eines elliptischen Exklamativsatzes (Was für eine geniale Idee!) ansehen. Die Hervorhebung des Rhemas durch Voranstellung und intonatorische Isolierung, bei erspartem Kopulaverb, verstärkt den expressiven Charakter dieser Deklarativsätze, cf. den obigen Beleg Unerträglich, dieser Gestank! (ibd.: 156). Auch im Englischen scheint neben den geläufigeren That’s a great idea! und (A) great idea! die segmentierte Form Great, that idea! zu existieren.

6.4 Synopse der Exklamativsatz-Strukturen

Hier nun eine synoptische Gesamtübersicht über die 104 Exklamativsatz-Strukturen und deren quantitative Anteile im Roman von Schalansky, mit Einschluss der verblosen Kurzsätze, ausgehend von Beleg (105) Wie sie das genoss (ibd.: 158) (mit Fettdruck der Prototypen):

Tabelle 9
Synopse zum Auftreten der Exklamativsatz-Strukturen bei Schalansky
GRAD-EXKLAMATIVSÄTZEAnzahl BelegeBeispiel
Wie + Adjektiv/Verb40Wie [sehr] sie das genoss.
Verb-Zweit-Struktur--Die hat das aber genossen!
Verb-Erst-Struktur--Mensch, hab ich das genossen!
Was für (ein) + Nomen7Was für ein Genuss (das war)!
Welch (ein)1Welch ein Genuss!
Dieser (+Adj. )+ Nomen18Dieser Genuss!
Total Grad-Exklamativsätze66
FAKT-EXKLAMATIVSÄTZE
Dass mit Verb-Endstellung29Dass sie das so genoss!
Verb-Zweit-Struktur2Oh, sie hat das ja genossen!
Was (nicht) alles7Was die nicht alles geniesst.
Total Fakt-Exklamativsätze38

Die Möglichkeiten bei der freien stilistischen Variation sind zu zahlreich, als dass sie hier aufgelistet werden könnten. Zu den typischen Sprachmitteln gehören jedoch Deklarativsätze, in denen Adjektive oder Satzadverbien wie wirklich, richtig, echt, eigentlich, regelrecht, richtiggehend, wahr(haftig) den ausgeprägten, oft unerwarteten Charakter eines Phänomens unterstreichen (Was für ein Massaker! ↔ Das war ein regelrechtes Massaker). Dass diese Lexeme im Wesentlichen den gleichen Sprechaktwert wie die Exklamativsatz-Struktur indizieren, geht auch daraus hervor, dass die beiden Sprachmittel nicht kombinierbar – weil pleonastisch – sind, cf. (128a):

(128) Dieser Gestank war wirklich bestialisch (ibd.: 154).

(128a) Wie bestialisch dieser Gestank (*wirklich) war!/Wie bestialisch es da (*wirklich) stank!

(129) Ja, das war ein richtiges Massensterben! (ibd.: 186).

Auch im Englischensind emphatische Deklarativsätze eine frequente alternative Ausdrucksweise zu den Exklamativsätzen. Besonders verbreitet scheinen Sätze mit dem Satzadverb really zu sein, z. B. Boy, he’s really shy (Salinger 1951: 74) oder Boy, he was really hot (ibd.: 246). Daneben wird der hohe Grad natürlich oft auch wie in anderen Sprachen mit lexikalischen Mitteln (mit)ausgedrückt: Boy, my heart was beating like a bastard (ibd.: 229) oder Boy, I was shaking like a madman (ibd.: 251).

Hier nun eine tabellarische Zusammenstellung der Ausdrucksformen der Exklamation im heutigen Deutsch. Der tatsächliche Befund wurde hier insofern vereinfacht, als von den Möglichkeiten der Stellungsvariation beim Verb (Zweitbzw. Endstellung) und beim Adjektiv/Adverb abgesehen wurde.91

Tabelle 10
Exklamativatz: Zentrum und Peripherie
PROTOTYPENDassder so stur ist! (Fakt-Exklamativ) Wie stur der ist! (Grad-Exklamativ) Was für einsturer Bock das ist! (Grad-Exklamativ)
VARIANTENOh, der ist ja stur! (Fakt-Exklamativ) Der ist (aber/vielleicht) stur! (Grad-Exklamativ) (Mein Gott), ist der stur! (Grad-Exklamativ) Wie stur!Was der stur sein kann. Was für ein sturer Bock! Welch sturer Bock!Dieser sture Bock! Diese Sturheit!Die Sturheit, die der an den Tag legt! Wer für dich (nicht) alles stur ist!Wie stur ist der denn.
KONKURRENZFORMENSo einsturer Bock!Der ist so/ganz schön/sowas von stur. Und ob der stur ist.Wennder nicht stur ist!Ein sturer Bock ist das.
FREIE STILISTISCHE VARIATIONDer ist echt/wirklich/richtiggehend stur. Das ist ein richtiger/wahrer Dickschädel. Das ist eine schon fast krankhafte Sturheit. etc.

7 Rückblick und Ausblick

Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, aufzuzeigen, dass es sinnvoll und machbar ist, bei grammatischen Phänomenen zwischen zentralen und peripheren Ausdrucksmitteln zu unterscheiden, hier angewendet auf das Konzept Satzart. Inspiriert durch die aus der Psychologie stammende Prototypentheorie wurde versucht, die mittels einer propositionalen Grundeinstellung definierten Satzarten aus dem dichotomen aristotelischen Korsett zu befreien und in ein flexibleres Modell einzubauen, bei dem einem prototypischen Kernbereich – bei abnehmender Typizität – funktionsähnliche Varianten und Konkurrenzformen zugeordnet werden, dies alles eingebettet in einen noch weiteren Kreis von – allerdings nicht mehr exhaustiv modellierund vorhersehbaren – freieren Formulierungsalternativen.

Die Satzarten sind erst in den letzten Jahrzehnten – im Gefolge der Arbeiten zur Sprechakttheorie – als Untersuchungsgegenstand in den Fokus der Forschung gerückt, nachdem vorher während Jahrhunderten die Meinung vorherrschte, dass es sich hier um ein in sich gefestigtes, mehr oder weniger universales System von Kategorien handle, bei dem es im Grunde nichts mehr zu erforschen gebe. Durch eine sorgfältige Unterscheidung von Satzarten und Äusserungsarten (Sprechaktwerte) konnten die bis dahin üblichen zirkulären Definitionen vermieden werden.

Aus den obigen Tabellen wird ersichtlich, dass sich das Zentrum-Peripherie-Modell nicht bei allen Satzarten als gleichermassen fruchtbar erweist. Ganz allgemein kann man sagen, dass sich dieses umso mehr „lohnt“, je grösser die bei einer Satzart zu beobachtende Formenvielfalt ist. Während diese etwa beim Deklarativsatz eher gering ausfällt, trifft für den Exklamativsatz das Gegenteil zu. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben wir in diesem Beitrag den Schwerpunkt auf diese – bislang theoretisch noch wenig etablierte und empirisch noch unzureichend erforschte – Satzart gelegt, die in den Referenzwerken immer noch stiefmütterlich behandelt wird. Dabei hat sich zum einen die – unserer Erwartung entsprechende – Vermutung bestätigt, dass bei den Grad-Exklamativen die wie-Sätze dominieren. Überraschend und in diesem Ausmass nicht erwartet ist zum andern aber das deutliche Vorherrschen der dass-Sätze bei den Fakt-Exklamativen, vom Typ Dass du das (nicht) weisst! Auch wenn unsere Korpus-Studie auf einem kleinen Korpus beruht und nicht diachron angelegt ist, konnten dennoch auch bezüglich der Sprachentwicklung plausible Hypothesen aufgestellt werden, etwa über das Veralten der welch-(ein)-Sätze und den sozusagen unter unseren Augen sich vollziehenden Aufstieg der Neo-Struktur Wie geil ist das denn! von der Umgangssprache in die Schriftsprache. Bei den Satzarten handelt es sich ganz generell um ein bezüglich Registern, Sprachniveaus und Domänen sensibles grammatisches Phänomen. Vom letzteren Fall zu unterscheiden ist die hier als Variante des Exklamativsatzes aufgefasste dieser-Konstruktion: Bei dieser handelt es sich vermutlich nicht um eine im Gegenwartsdeutsch neu entstandene, sondern vielmehr um eine von der Forschung bisher übersehene Struktur, die aus diesem Grund noch keinen Eingang in die Referenzwerke gefunden hat. Als sinnvoll erweist sich die Anwendung des Zentrum-Peripherie-Modells auch im Bereich der Aufforderungen: Um den prototypischen Imperativsatz herum die einzige Struktur mit einem exklusiv auftretenden Verbmodus – gruppiert sich ein ganzer Kranz von alternativen Ausdrucksweisen, was sich wohl dadurch erklärt, dass Äusserungen, welche auf eine Verhaltensmodifikation beim Adressaten abzielen, sich für den Sender oft als heikel und gesichtsbedrohend erweisen. Wie bei keiner anderen Satzart sind denn auch die hier zu Gebote stehenden Ausdrucksvarianten mannigfachen pragmatischen Verwendungsrestriktionen (bezüglich asymmetrischen Rollen, Höflichkeitsgrad, etc.) unterworfen.

Die Erstellung einer Satzarten-Typologie und die Auflistung von deren Prototyp(en) und Varianten ist aber nur der erste Schritt zu einer vollständigen grammatischen Beschreibung einer Sprache. Die Angaben qualitativer Natur müssen um solche quantitativer Natur ergänzt werden. Neben der möglichst vollständigen Erfassung des Strukturen-Inventars sollte eine wissenschaftliche Grammatik unserer Auffassung nach auch Informationen zu den „structures in use“ enthalten, i. e. zur tatsächlichen Verwendung dieser Strukturen, und dies in Form von zweierlei Kennwerten: zum einen Angaben zur absoluten Auftretensfrequenz einer Struktur „über alles hinweg“ (aus Gründen der Vergleichbarkeit normalisiert, zum Beispiel auf eine Million Textwörter), zum andern absolute und relative Frequenzangaben, aufgeschlüsselt nach unterschiedlichen kommunikativen Situationstypen bzw. Textsorten. Bei der konkreten Umsetzung könnte man sich dabei vom innovativen Vorgehen in der Longman Grammar of Spoken and Written Englishvon Biber et al. (1999) anregen lassen, einer Grammatik, die zweifellos einen Meilenstein in der Grammatikographie – nicht nur des Englischen – darstellt und in die in systematischer Weise Korpusbefunde aus vier relevanten Textsortengruppen (conversation – fiction – news – academic prose) eingegangen sind.

Solche quantitative Kennwerte (in tabellarischer Form verdichtet) wären von folgender Art (alle Zahlenangaben im Folgenden fiktiv): Die durchschnittliche Auftretensfrequenz der Exklamativsätze über alles hinweg beträgt 150 (i. e. 150 Vorkommen auf 1 Mio Textwörter); im Teilkorpus akademisches Schrifttum liegt dieser Wert bei 20, bei der Textsorte Roman dagegen bei 600. Der zweite Kennwert beträfe den relativen Anteil einer bestimmten Struktur in ihrem funktionalen Konkurrenzfeld. Dieser ist deshalb wichtig, weil eine „atomistische“ Behandlung einer grammatischen Einzelstruktur nur von begrenztem Erkenntniswert ist. Grammatische Informationen sind nur dann wirklich nützlich, wenn jede auftretende Struktur „im Netzwerk ihrer Nachbarn“ (Auer 2016, im Untertitel) erfasst und quantitativ verortet ist. Eine entsprechende Angabe könnte etwa so lauten: Im Teilkorpus gesprochene Sprache beträgt der relative Anteil der wie-Exklamativsätze am Gesamt der Exklamativstrukturen 10 %, in der Belletristik dagegen 40 %. Umgekehrt verhält es sich bei den was-für-ein-Sätzen mit entsprechenden Anteilen von 50 % respektive 20 %. Noch bis vor kurzem wäre die Umsetzung eines so ehrgeizigen Forschungsdesiderats, das Grosskorpora mit ausgebauten Abfragemöglichkeiten voraussetzt, nicht möglich gewesen. Allerdings muss man auch heute noch für viele Fragestellungen auf Handauswertungen und auf morphologisch und syntaktisch annotierte („getaggte“ und „geparste“) Korpora zurückgreifen; diese sind naturgemäss viel kleiner und können von daher nur eine sehr vorläufige Vorstellung von den „wahren“ Grössenrelationen liefern.

Um ein umfassendes Bild vom Funktionieren einer Sprache zu bekommen, braucht es also beides: die vollständige Erfassung des Inventars an Strukturen („register“) sowie verlässliche Angaben zu deren Einsatz in konkreten Kommunikationssituationen („use“), anders ausgedrückt: Informationen sowohl zur langue als auch zur parole. Auf die Satzarten angewandt kann ein solcher Anspruch eingelöst werden durch die Beschreibung der für jede Satzart einschlägigen zentralen und peripheren Strukturen, kombiniert mit empirisch erhobenen Kennwerten zu deren üblicher Verwendung in unterschiedlichen kommunikativen Situationstypen. Eine solche umfassende Sicht auf die sprachlichen Strukturen und ihre Verwendung bringt einen grösseren Erkenntnisgewinn als der Versuch einer mehr oder weniger willkürlichen Unterscheidung zwischen major und minor sentence types. Die zentralen Strukturtypen der Satzarten des Deutschen sind heute bekannt, bei den peripheren Ausdrucksmitteln lassen sich dagegen durch empirische Feinarbeit von handwerklich-philologischer Qualität noch Entdeckungen machen. Ganz anders verhält es sich mit deren quantitativer Erfassung: Beim globalen Auftreten der Strukturtypen, bei den relativen Frequenzanteilen in ihrem Konkurrenzfeld sowie bei deren Koppelung mit einzelnen Sprechakttypen bleibt das meiste noch zu tun.

Literaturverzeichnis

Altmann, Hans (1987): „Zur Problematik der Konstitution von Satzmodi als Formtypen“. In: Meibauer, Jörg (ed.): Satzmodus zwischen Grammatik und Pragmatik. Tübingen, Niemeyer: 22–56.

Auer, Peter (1993): „Zur Verbspitzenstellung im gesprochenen Deutsch.“ Deutsche Sprache 23: 193–222.

Auer, Peter (2016): „Wie geil ist das denn? – Eine neue Konstruktion im Netzwerk ihrer Nachbarn“. Zeitschrift für germanistische Linguistik 44: 69–92.

Becker, Karl Ferdinand (1845): Schulgrammatik der deutschen Sprache. Frankfurt a. M.: Kettembeil. https://reader.digitale-sammlungen.de//de/fs1/object/display/bsb10583382_00005.html [18.03.2021].

Biber, Douglas et al. (1999): Longman Grammar of Spoken and Written English. Harlow: Pearson Education Limited.

Blank, Andreas (2001): Einführung in die lexikalische Semantik für Romanisten. Tübingen: Niemeyer.

Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Gustav Fischer.

Collins, Peter (2005): „Exclamative clauses in English“. Word 56/1: 1–17.

d’Avis, Franz (2013): „Exklamativsatz“. In: Meibauer, Jörg/Steinbach, Markus/Altmann, Hans (eds.): Satztypen des Deutschen. Berlin/Boston, de Gruyter: 171–201.

Dieckmann, Walter et al.: (2000): „‚Satzarten‘ in Gebrauchsgrammatiken des Deutschen“. In: Thieroff, Rolf et al. (eds.): Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis. Tübingen, Niemeyer: 247–261.

Donhauser, Karin (1986): Der Imperativ im Deutschen. Studien zur Syntax und Semantik des deutschen Modussystems. Hamburg: Buske.

Duden-Grammatik (2005): Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. 7. Aufl. Mannheim: Dudenverlag.

Duden-Grammatik (2016): Die Grammatik. Herausg. von Angelika Wöllstein et al. 9. Aufl. Berlin: Dudenverlag.

Engel, Ulrich (1996): Deutsche Grammatik. 3. Aufl. Heidelberg: Julius Groos.

Finkbeiner, Rita (2015): „Wie deutsch ist das denn?! Satztyp oder Konstruktion?“ In: Seiler Brylla, Charlotta/Wåghäll Nivre, Elisabeth (eds.): Sendbote zwischen den Kulturen. Gustav Korlén und die germanistische Tradition an der Universität Stockholm. Stockholm, Almqvist & Wiksell International: 243–273. (= Acta Universitatis Stockholmiensis/Stockholmer Germanistische Forschungen 80).

Gachet, Frédéric/Corminboeuf, Gilles (2012): „Les exclamatives de Mlle Pellaton“. Linguistique Française. SHS Web of Conferences, Vol. 1: 1743–1757. doi.org/10.1051/shsconf/20120100040

GDS: Zifonun, Gisela/Hoffmann, Ludger/Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bände. Berlin/New York: de Gruyter.

Gérard, Josselyne (1980): L’exclamation en français. La syntaxe des phrases et des expressions exclamatives. Tübingen: Niemeyer.

Grosz, Patrick G. (2013): „Optativsatz“. In: Meibauer, Jörg/Steinbach, Markus/Altmann, Hans (eds.): Satztypen des Deutschen. Berlin/Boston, de Gruyter: 146–170.

Hnatik, Katarzyna. (2009): Exklamativsätze im Deutschen und Polnischen. Katowice: Uniwersytet Śląski. core.ac.uk/download/pdf/197750338.pdf [10.03.2021].

Huddleston, Rodney (1993): „On exclamation-inversion sentences in English“. Lingua 90: 259–269.

Huddleston, Rodney/Pullum Geoffrey K. (2002): Cambridge Grammar of the English Language. Cambridge: Cambridge University Press.

Levinson, Stephen C. (2017): „Speech Acts“. In: Huang, Yan (ed.): The Oxford Handbook of Pragmatics. Oxford, Oxford University Press: 199–216.

Lüdeling, Anke (2017): „Variationistische Korpusstudien“. In: Konopka, Marek/Wöllstein, Angelika (eds.): Grammatische Variation: Empirische Zugänge und theoretische Modellierung (Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2016). Berlin: de Gruyter: 129–144.

Meibauer, Jörg (1986): Rhetorische Fragen. Tübingen: Niemeyer.

Meibauer, Jörg/Steinbach, Markus/Altmann, Hans (eds.) (2013): Satztypen des Deutschen. Berlin/Boston: de Gruyter.

Mucha, Katharina (2016): „W-Exklamativ-Konstruktionen als soziokulturelle Muster von Emotionsrepräsentationen – am Beispiel von bürgerlichen Trauerspielen des 18. Jahrhunderts“. Zeitschrift für deutsche Philologie 135/1: 111–151.

Näf, Anton (1987): „Gibt es Exklamativsätze?“ In: Meibauer, Jörg (ed.): Satzmodus zwischen Grammatik und Pragmatik. Tübingen, Niemeyer: 140–160.

Näf, Anton (1992): Herre, wie bin ich mit liebe alsus verirret! – Zu den Exklamativsätzen in Gottfrieds ‚Tristan‘. Zeitschrift für germanistische Linguistik 20: 37–63.

Näf, Anton (1995): „Die Satzarten als Lernund Reflexionsgegenstand in der Schule“. Der Deutschunterricht 47/4: 51–69.

Näf, Anton (1996): „Die w-Exklamativsätze im Deutschen – zugleich ein Plädoyer für eine Rehabilitierung der Empirie in der Sprachwissenschaft“. Zeitschrift für germanistische Linguistik 24: 135–152.

Näf, Anton (2006): „Satzarten unterscheiden – Kann das der Computer? Syntaktische Explorationen anhand von COSMAS II“. Linguistik online 28/3: 85–107.

Näf, Anton (2017): „Die Satzarten des Deutschen – ein Jahrtausendspagat. Sprachreflexion und Sprachwirklichkeit bei Notker dem Deutschen“. Sprachwissenschaft 42: 413–470.

Näf, Anton (2021): „Zentrum und Peripherie in der deutschen Syntax. Erprobung des theoretischen Modells (Konditionalität, Passivstrukturen)“. Linguistik online 106/1: 115–147 doi 10.13092/lo.106.7512

Önnerfors, Olaf (1997): Verb-erst-Deklarativsätze. Grammatik und Pragmatik. Stockholm: Almqvist & Wiksell International.

Oppenrieder, Wilhelm (1987): „Aussagesätze im Deutschen“. In: Meibauer, Jörg (ed.): Satzmodus zwischen Grammatik und Pragmatik. Tübingen, Niemeyer: 161–189.

Panther, Klaus-Uwe/Köpcke, Klaus-Michael (2008): „A Prototype Approach to Sentences and Sentence Types“. Annual Review of Cognitive Linguistics 6: 83–112.

Pfeiffer, Martin (2016): „The deictic dimension of exclamations: On the use of wh-exclamatives in German face-to-face interaction“. Revue de Sémantique et Pragmatique 40: 35–57.

Quirk, Randolph et al. (1972): A Grammar of Contemporary English. London: Longman. Quirk, Randolph et al. (1985): A Comprehensive Grammar of the English Language. London: Longman.

Schanen, François/Confais, Jean-Pierre (1986): Grammaire de l’allemand. Formes et fonctions. Paris: Editions Nathan.

Scholz, Ulrike (1991): Wunschsätze im Deutschen – Formale und funktionale Beschreibung. Satztypen mit Verberstund Verbletztstellung. Tübingen: Niemeyer.

Siemund, Peter (2018): Speech Acts and Clause Types. Oxford: Oxford University Press.

Söll, Ludwig/Hausmann, Franz Josef (1985): Gesprochenes und geschriebenes Französisch. 3. Aufl. Berlin: Schmidt Verlag.

Sommerfeldt, Karl-Ernst/Starke, Günther/Nerius, Dieter (1981): Einführung in die Grammatik und Orthographie der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig: Bibliographisches Institut.

Szczepaniak, Renata (2013): „Satztyp und Sprachwandel“. In: Meibauer, Jörg/Steinbach, Markus/Altmann, Hans (eds.): Satztypen des Deutschen. Berlin/Boston, de Gruyter: 738–763.

Thurmair, Maria (2001): Vergleiche und Vergleichen: Eine Studie zu Form und Funktion der Vergleichsstrukturen im Deutschen. Tübingen: Niemeyer.

Thurmair, Maria (2013): „Satztyp und Modalpartikeln“. In: Meibauer, Jörg/Steinbach, Markus/Altmann, Hans (eds.): Satztypen des Deutschen. Berlin/Boston, de Gruyter: 627–651.

Literarische Quellen

Bichsel, Peter (2020): „Die Unveränderbarkeit der Schweiz hat etwas Beängstigendes“. NZZ 31.12.2020. nzz.ch/schweiz/peter-bichsel-ueber-corona-das-alleinsein-und-die-schweiz-ld.1594341?reduced=true&mktcid=smsh [27.03.2021].

Goethe, Johann Wolfgang von (1774/1981): Die Leiden des jungen Werthers In: Goethes Werke in 14 Bänden (Hamburger Ausgabe), herausg. von Erich Trunz. Bd. 6: Romane und Novellen. München: Beck.

Goethe, Johann Wolfgang von (1808/1981): Faust: Der Tragödie erster Teil. In: Goethes Werke in 14 Bänden (Hamburger Ausgabe), herausg. von Erich Trunz. Bd. 3: Dramatische Dichtungen. München: Beck.

Goethe, Johann Wolfgang von (1832/1981): Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Goethes Werke in 14 Bänden (Hamburger Ausgabe), herausg. von Erich Trunz. Bd. 3: Dramatische Dichtungen. München: Beck.

Maeder, Markus (2009): Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer. Lachen: Wörterseh.

Meyer, Thomas (2012): Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse. Zürich: Salis.

Rinser, Luise (1972): Grenzübergänge. Tagebuch-Notizen. Frankfurt a. M: Fischer.

Salinger, Jerome David (1951): The Catcher in the Rye. New-York-Boston: Little, Brown and Company.

Saint-Exupéry, Antoine de/Manser, Joe (Übersetzer): De chlin Prinz. Lausanne: Favre. Schalansky, Judith (2012): Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Berlin: Suhrkamp.

Schiller, Friedrich (1804/1966): Friedrich Schiller. Werke in drei Bänden, herausg. von Herbert G. Göpfert. München: Hanser.

Stamm, Peter (1998): Agnes. Roman. Zürich-Hamburg: Arche.

Stamm, Peter (2018): Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt. Frankfurt a. M.: Fischer. Wermuth, Verena (2007): Die verbotene Frau: Meine Jahre mit Scheich Khalid von Dubai. München: Knaur.

Fußnote

1 Die einzige Ausnahme bildet Art 56 mit der vorformulierten Eidesformel „Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, […] meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ Dieser Artikel ist textsortenmässig ein Fremdkörper, was sich auch darin zeigt, dass er ein Futur und einen Konjunktiv I enthält.
2 Der Roman umfasst 222 Seiten; wenn man die durch die Autorin angefertigten Illustrationen abzieht, kommt man auf insgesamt 179 Textseiten.
3 Es ist wahrscheinlich, dass in Theaterstücken oder Film-Drehbüchern der Anteil an Nicht-Deklarativen noch höher ist als in Romanen.
4 Bis in die Gegenwart hinein begegnet man auch in wissenschaftlichen Werken immer wieder der Trichotomie Aussagesatz, Fragesatz, Aufforderungssatz, etwa bei Sommerfeldt/Starke/Nerius (1981: 167f.) oder Engel (1996: 181). Nach Dieckmann et al. (2000: 258) ist der „Druck, die tradierte Typologie zu bestätigen“ so stark, dass dabei Ungereimtheiten und sogar handfeste Widersprüche stillschweigend in Kauf genommen werden. Neben Dreierwaren ab dem 19. Jh. auch Vierertypologien verbreitetet. In seiner einflussreichen Schulgrammatik der deutschen Sprache setzte der Sprachforscher und Pädagoge Karl Ferdinand Becker vier Grundtypen an: Urtheilssatz, Fragesatz, Wünschesatz und Heischesatz (Becker 1845: 202f.)
5 Siemund (2018: 79–84) begründet seinen Verzicht auf die Berücksichtigung dieses Kriteriums damit, dass die Satzintonation einen unabhängigen Kommunikationskanal darstelle, der die morphosyntaktischen Strukturen überlagere und dem man im Rahmen der Pragmatik Rechnung tragen müsse.
6 Auch bei Siemund ist davon die Rede, dass die illokutive Kraft einer Satzart durch bestimmte Verwendungen überlagert werden kann (2018: 74).
7 Es lassen sich leicht einschlägige Minimalpaare konstruieren: Kannst du das mal öffnen? (Bitte) vs. Kannst du das denn öffnen? (Erstaunen).
8 Cf. dazu die Abbildungen bei Näf (1995: 53–55).
9 Zum Begriff major sentence tpyes cf. auch Levinson (2017: 205). In den Sprachen der Welt sind von den drei major sentence types Deklarativsatz, Interrogativsatz und Imperativsatz jeweils mindestens zwei mit einer eigenen grammatischen Struktur vertreten.
10 Cf. dazu Siemund (2018: 84 und 384).
11 Cf. dazu und zum Folgenden Siemund (2018: 84 und 301–31).
12 Siemund (2018: 312) spricht in diesem Zusammenhang von einer Konventionalisierung des elliptischen Gebrauchs von untergeordneten Sätzen. Wie man sich einen solchen Übergang vorzustellen hat, lässt sich für das Deutsche mit Hilfe von Belegmaterial aus dem Mittelhochdeutschen nachvollziehen, cf. dazu Näf (1992: 57).
13 Man hat darauf hingewiesen, dass in diesen Sätzen Verbformen, die synchronisch als Präteritum anzusprechen sind, einen Zukunftsbezug ausdrücken: If only he came tomorrow (Siemund 2018: 320).
14 Diachronisch betrachtet scheint diese Rangfolge der Satzarten sehr stabil zu sein, lässt sie sich doch schon vor tausend Jahren im Althochdeutschen nachweisen, cf. Näf (2017: 439).
15 International Corpus of English, British Component, mit insgesamt 56‘050 Hauptsatz-Belegen, cf. Siemund 2018: 138, 378.
16 Ganz marginal und unter speziellen Bedingungen existieren im heutigen Deutsch auch Deklarativsätze mit Erststellung des Verbs, welche bei Önnerfors (1997) ausführlich besprochen werden, z. B. bei aufzählender Reihung (Kommt hinzu, dass …; Bleibt noch nachzutragen, …, cf. auch franz. Reste à savoir si …) oder bei Begründungen (Er war todmüde, hatte er doch zwei Nächte nicht geschlafen). Sehr weitgehenden Restriktionen unterliegen auch die narrativ verwendeten Strukturen, die namentlich in Witzanfängen auftreten, z. B. der folgende Beleg bei Schalansky (2012: 164): Geht ein Frosch in ein Milchwarengeschäft. Fragt die Verkäuferin: Na, kleiner Frosch, was möchtest du denn? Sagt der Frosch: Quark. Cf. dazu Szczepaniak (2013: 744) und vor allem Auer (1993: 215), der dieser Verbspitzenstellung „eine Signalfunktion für die Erkennung der Gattung“ zuerkennt. Die lexikalische Füllung der Strukturstelle des Verbs ist hier sehr eingeschränkt, im Wesentlichen auf Kommunikations(sagen, fragenu. a.) und Bewegungsverben (kommen, gehen, u. a.), cf. Önnerfors (1997: 113ff.).
17 Eine Ausnahme bildet offensichtlich der Desiderativsatz (oder: Optativsatz), bei dem das Verb (mit der wichtigen kontrafaktischen Information) nicht wegbleiben kann.
18 Nicht thematisiert werden sollen in diesem Beitrag die – bei Schalansky (2012) sehr häufig als Stilmittel eingesetzten – Fälle von Parzellierung (oder: Isolierung) z. B. Die Wahrheit war zumutbar. Auch Kindern (ibd.: 135) oder Die Mutter hätte es verstossen. Wegen des fremden Geruchs (ibd.: 180). Hier wird eine Konstituente des Satzes durch einen Punkt abgetrennt und als eigene Intonationseinheit präsentiert, wohl meist, um dieser mehr Gewicht zu verleihen.
19 Für dieses Phänomen findet man auch andere Bezeichnungen, etwa Koordinationsellipse (Auer 1993: 194).
20 Diese werden zum Teil auch als „Setzungen“ oder als „kommunikative Minimaleinheiten. (GDS 1997: 87ff.) bezeichnet.
21 In der Duden-Grammatik (2005: 910) wird zu Recht darauf hingewiesen, dass es bei der Interpretation der Ellipsen einen gewissen Spielraum gibt. Eine Sondergruppe bilden die standardisierten Ellipsen vom Typ Guten Tag!, Schöne Ferien! etc.
22 Die gesprochene Sprache lässt Verb-Erstellung in weit grösserem Umfang zu als die geschriebene. Namentlich bei eng mit dem Vortext verknüpften Äusserungen zur Modalisierung (glaub ich auch; kann schon sein) oder Bewertung (find ich auch; sieht gut aus) sowie bei Pro-Verben (Lass alle grüssen . mach ich gern) wird nicht selten auf Expletivpronomina wie esund das verzichtet. Auer (1993) spricht in diesem Zusammenhang von uneigentlicher Verbspitzenstellung.
23 Zu den rhetorischen Fragen allgemein cf. Meibauer (1986). Auch wenn wir den relativen Anteil der rhetorischen Fragen am Gesamt der Interrogativsätze noch nicht kennen, scheint es sich bei diesen in der heutigen Sprachwirklichkeit nicht um eine marginale Funktion zu handeln. Bei Schalansky jedenfalls sind sie gut vertreten. Dies trifft im Übrigen auch schon auf das Althochdeutsche zu, wo sie in Schriften mit didaktischer Zielsetzung dazu dienen, die Evidenz von Aussagen zu beschwören (Näf 2017: 445).
24 Bei einer Variante dieser Struktur steht das Verb unmittelbar nach dem einleitenden als. Als wäre der Mensch das einzige Lebewesen, das seine Umwelt zerstört (Schalansky 2012: 161). Von dieser Verwendung zu trennen sind die eingebetteten irrealen Vergleichssätze: Es sah so aus, als ob er eine Rede halten wollte (ibd.: S. 145), aus denen die illokutiv selbständigen Strukturen (vielleicht) entstanden sind.
25 Diese Art der Verwendung von Nominalgruppen unterscheidet sich prinzipiell von dem, was man üblicherweise als Nominalstil (vor allem in der Verwaltungsund Gesetzessprache) bezeichnet.
26 Zu den Sprachen mit Fragepartikeln zählt auch das Lateinische: die Ja/Nein-Fragesätze enthalten Partikeln (-ne, num, nonne, an), die je nach den Erwartungen des Sprechers bezüglich der Antwort („answer bias“) zum Einsatz gelangen. Die Stellung des Verbs in den einzelnen Satzarten ist dagegen grammatisch nicht festgelegt.
27 Zu den Kodierungsstrategien für Ja/Nein-Fragesätze in den Sprachen der Welt cf. die Tabelle bei Siemund (2018: 180). Demgegenüber sind die w-Fragesätze bereits durch das Fragewort (was, wer, wo, warum, etc.) schon deutlich charakterisiert, auch wenn dessen Stellung zu Beginn des Satzes weltweit betrachtet deutlich seltener ist: In einer Stichprobe von 902 Sprachen steht das Fragewort in 615 Sprachen in situ und nur in 264 in initialer Stellung; bei genauerem Hinsehen existieren aber offenbar mannigfaltige Mischsysteme (Siemund 2018: 213f.).
28 Zum Dominieren der Illokution Informationsfrage im Englischen cf. Siemund 2018: 175, 209. Zum Illokutionspotential der Interrogativsätze im Deutschen cf. Näf (1995: 57, 60f.), am Beispiel von Dürrenmatts Komödie Romulus der Grosse.
29 Andere Forscher stützen sich zur Lösung dieser Schwierigkeit auf das Konzept der Familienähnlichkeit, indem sie die Satzarten generell als ein syntaktisches und semantisches Kontinuum auffassen. So platziert etwa Givón (1986) zwischen dem prototypischen Imperativsatz (Pass the salt!) und dem prototypischen Interrogativsatz (Is there any salt around?) eine ganze Palette von Übergangs-Strukturen (Taylor 1995: 154ff.). Nach unserer Auffassung handelt es sich dabei aber um satzartmässig klar zuordenbare Strukturen, allerdings pragmatisch betrachtet von unterschiedlichem Höflichkeitsgrad.
30 So im International Corpus of English, British Component (ICE-GB), zitiert nach Siemund (2018: 175, 207– 209). Wir verwenden hier durchgängig die Bezeichnungen .-Wort und .-Interrogativsatz; auch im Englischen scheint uns wh-word, wh-question, wh-interrogative clause bzw. sentence gegenüber anderen Ausdrücken (Siemund spricht von constituent interrogatives) vorzuziehen sein, dies obwohl das hierher gehörige how nicht mit whbeginnt (cf. ibd.: 203).
31 Bei Biber et al. (1999: 207) wird unter den Sprechaktwerten, welche mit einem Interrogativsatz ausgedrückt werden können, auch die Exklamation genannt: Isn’t that lovely! Auch in der Cambridge Grammar werden rhetorische Fragen wie Isn’t it cold! von ihrem Sprechaktwert her in die Nähe der Exklamativsätze vom Typ How cold it is! gerückt (Huddleston/Pullum 2002: 923). In unserer Sicht steht aber bei dieser Struktur – trotz des Ausrufezeichens – nicht die Feststellung einer Normabweichung im Vordergrund; vielmehr handelt es sich um eine emotionale Beteuerung, für die man die Zustimmung eines Zuhörers sucht (← Bist du nicht auch der Meinung, dass es sehr kalt ist?).
32 Siemund (2018: 175, 209, 380) rechnet die rhetorischen Fragen zur indirekten Verwendung („indirect use“) der Interrogativsätze.
33 Zu diesem Terminus cf. Oppenrieder (1987: 166).
34 Auch in sog. Nachfragesätzen (Echofragesätzen) steht das (betonte) w-Wort in situ, z. B. Ich habe einen Hallux valgus. – Du hast einen was? Dies trifft auch für das Englische zu: Where did she put the jug? . Where did she put what? (Siemund 2018: 81)
35 Für die ob-Sätze gibt es bei Schalansky keinen Beleg, eine bloss zufällige Lücke. Cf. etwa „Ob hier die Toten aufgebahrt werden?“ (Stamm 2018: 47).
36 Bei Emphase oder Kontrastbetonung kann dieses allerdings stehen: Schlag du das Buch auf. Bei der Höflichkeitsform der 3. Person (Sie mit Majuskel) ist das Subjektspronomen dagegen obligatorisch: *Schlagen das Buch auf! Für empirische Daten zu den Imperativsätzen im Deutschen cf. Donhauser: 1986.
37 Näheres dazu bei Siemund (2018: 239) und Huddleston/Pullum (2002: 926).
38 Auch im Englischen können gewisse Elemente dem Verb vorangestellt werden: Just do it; Now wash your hands; Then add four eggs, etc. Die Möglichkeiten im Deutschen sind aber beschränkter als im Englischen: Never forget to smile : *Nie vergiss zu lächeln.
39 Infolge Formenzusammenfalls ist allerdings nicht klar, ob hier ein Imperativ (Ersatz durch die ihr-Form: bearbeitet) oder aber ein Indikativ (bearbeitet ihr) vorliegt.
40 Imperativ und Infinitiv in Handlungsanweisungen etc. sind jedoch nicht generell gegeneinander austauschbar. Der Imperativ ist persönlicher im Ton (Pour en savoir plus, consultez ma newsletter), der – im Französischen im Plural allerdings homophone – Infinitiv wirkt distanzierter (Pour en savoir plus, (veuillez) consulter le site web).
41 Wir können vermuten, dass der Formenzusammenfall von Indikativ und Konjunktiv I im Plural (aber nicht im Singular) die Marginalisierung dieser Konstruktion befördert hat: Der Landesammann nehme seinen Platz,/Und seine Weibel stehen ihm zur Seite! (ibd.: 588), hier im Sinne von: „sollen ihm zur Seite stehen“.
42 Sowohl im Englischen als auch im Deutschen (mit Konjunktiv I) existieren im Weiteren archaische Wunschund Segensformeln mit dem Modalverb mögen bzw. may in der 3. Person, z. B. Möge der Beste gewinnen bzw. May the best (one) win; im Französischen gelangt auch hier die Konstruktion que+subjonctif zum Einsatz: Que le meilleur gagne!
43 Zu den ziemlich subtilen Details der Verwendung von Let us bzw. Let’s cf. Huddleston/Pullum 2002: 924f.
44 Es treten bei Schalansky (2012) im Weiteren auch stärker standardisierte Ellipsen wie Herein! (ibd.: 104) oder Auf die Plätze (ibd.: 59) auf.
45 Das Futur in Deklarativsätzen mit Befehlsfunktion ist offenbar ziemlich verbreitet; es tritt etwa an einer bekannten Stelle in Schillers Wilhelm Tell auf, mit nachgeschobener explizit performativer Formel: (Gessler zu Tell: Du wirst den Apfel schiessen von dem Kopf/Des Knaben – Ich begehrs und wills (Schiller 1804/1966: 609).
46 In Bibelübersetzungen mit archaischem Sprachgebrauch ist auch in prohibitiver Verwendung die do-Periphrase noch nicht obligatorisch, mit einer Wortfolge wie im Deutschen: Rühre mich nicht an : Touch me not (gegenüber modernerem Do not/Don’t touch me).
47 Im mündlichen Gebrauch existiert offenbar eine ganze Palette von Registervarianten, etwa bei ‚Mach dir keine Sorgen‘: Ne t’inquiète pas, t’inquiète pas, inquiète-toi pas und sogar das ohne Negationsmarkierung auskommende erstarrte t’inquiète! (als sms-Abkürzung „tkt“ geschrieben), ein Synonym für pas de soucis ‚keine Sorge‘. Für Auskünfte zum Französischen danke ich Alain Kamber (Neuchâtel).
48 Im Englischen dient die do-Periphrase auch dazu, nicht-negierte Aufforderungen nachdrücklicher (Do be careful oder Do hurry up) oder in bestimmten Fällen auch höflicher zu machen: Do sit down and make yourself comfortable (cf. Huddleston/Pullum 2002: 929).
49 Es ist aber klar, dass wir im Alltag die meisten Wünsche mit Hilfe von anderen syntaktischen Strukturen formulieren, in erster Linie mit den folgenden: Deklarativsatz (Ich hätte gern ein Glas Wasser), Interrogativsatz (Hätten Sie mir vielleicht ein Glas Wasser?), Imperativsatz (Bringen Sie mir doch bitte ein Glas Wasser). Daneben gibt es natürlich auch zahlreiche Möglichkeiten zum Ausdruck der gleichen Sprecherintention durch einen indirekten Sprechakt, zum Beispiel durch den Deklarativsatz Ich habe so einen Durst oder den Exklamativsatz Mensch, hab ich en Durst!, cf. dazu Siemund (2018: 45–48).
50 Im Korpus von Scholz (1991: 55) rangieren die wenn-Sätze (ca. 150 Belege) vor den Verb-Erst-Sätzen (ca. 100 Belege). Die mit dem satzarttypischen O dass doch eingeleiteten Desiderativsätze sind dagegen nur schwach belegt (12 Belege) und müssen heute als veraltet gelten, cf. Grosz 2013: 150. Auch im Englischen handelt es sich bei den entsprechenden that-Sätzen um archaische Relikte: Oh that I could forget her! . Ach, dass ich sie doch vergessen könnte! Im Gegensatz zum heutigen Deutsch dominieren in Goethes Werther noch die Desiderativsätze mit Verb-Erststellung, ohne Modalpartikel (Dort das Wäldchen! – Ach könntest du dich in seine Schatten mischen! – Dort die Spitze des Berges! Ach könntest du von da die weite Gegend überschauen! – Die in einander geketteten Hügel und vertraulichen Täler! – O könnte ich mich in ihnen verlieren!). Die wenn-Sätze im Werther weisen demgegenüber eine Modalpartikel auf: Wenn ihm nur kein Unglück widerfahren ist. (Goethe 1774/1981: 29).
51 Zu den Ausdrucksformen des Desiderativsatzes im Althochdeutschen cf. Näf (2017: 458–61).
52 Ein erster Überblick über die Formenvielfalt bei der Exklamation findet sich bei Näf (1987: 143f.), noch ohne systematische Erfassung der verblosen Strukturen. Auch für das Englische konstatiert Siemund (2018: 273) bei der Exklamation eine strukturelle Heterogenität mit mindestens einem halben Dutzend einschlägiger Strukturen.
53 Diese Terminologie nach GDS (1997: 671). In der französischen Grammatikographie wird im gleichen Sinn, analog zu den Interrogativsätzen, zwischen exclamations globales und exclamations partielles unterschieden (Schanen/Confais 1986: 265). Im Korpus von Hnatik (2009: 254) mit Belegen aus den Medien (Radio, Fernsehen, Internet etc.) beträgt der Anteil der Grad-Exklamative 75 %, jener der Fakt-Exklamative 17 %; die restlichen 8% werden einer dritten Kategorie („quasi skalare Exklamativa“) zugewiesen, die namentlich Strukturen vom Typ Was du (nicht) alles weisst! umfasst.
54 Bei der Und-ob-Konstruktion bezieht sich die Nachdrücklichkeit unseres Erachtens sowohl auf das Faktum als solches als auch auf dessen Grad: Und ob der stur ist! (‚Ja, der ist stur, und zwar sehr stark‘). Entsprechendes gilt für dass-Sätze mit tantopere-so wie zum Beispiel Dass ihn der Wallenstein so faszinierte! (Rinser 1972: 243).
55 Um die sprechaktmässige Nähe der Exklamativsätze zu den Deklarativsätzen zu betonen, spricht Collins (2005: 2) in diesem Zusammenhang lieber von „exclamatory statement“ als von „exclamation“.
56 Die dass-Exklamativsätze sind auch im Korpus von Hnatik (2009: 253) mit einem Anteil von über zwei Dritteln die häufigste Struktur bei den Fakt-Exklamativen.
57 Entsprechende Dass-Sätze finden sich auch in anderen Sprachen, etwa im Englischen, z. B. That she could behave like this! (Siemund 2018: 277). Sie werden dort aber meist nicht als Fakt-Exklamative gedeutet, sondern als eingebettete Teilsätze mit erspartem Trägersatz (I can’t believe that…).
58 Auf Auftreten in der Mündlichkeit deutet auch die Tatsache hin, dass für diese Struktur – anstelle des Personalpronomens – das umgangssprachliche der-Determinativ typisch ist: Die lebt ja noch!
59 Cf. dazu auch Szczepaniak 2013: 746. Auch aus dem dort gegebenen – konstruierten – Minimalpaar geht hervor, dass ein d-Determinativ in der Regel auf Exklamation hindeutet: Die kommt aber häufig nach Mainz! vs. Sie kommt aber häufig nach Mainz.
60 Beleg aus Meyer (2012: 61). Cf. hierzu GDS (1997: 672) und d’Avis (2013: 180).
61 Die Interpretation als Grad-Exklamativ kann durch Testverfahren plausibel gemacht werden, z. B. durch Einfügung einer Modalpartikel (Das war vielleicht ein Schuss!) oder durch eine bedeutungserhaltende Transformation in eine Verb-Erst-Struktur (War das ein Schuss!). Dieser letztere Test scheint das zuverlässigste Verfahren zur Diagnostizierung der Verb-Zweit-Exklamativsätze zu sein: Das waren noch Zeiten, als ein Heizungsmonteur Bundesrat werden konnte! (Peter Bichsel 2020) (→ Waren das noch Zeiten, als …).
62 Andere englische Übersetzungen bleiben näher am Wortlaut des Originals und betonen den expressiven Charakter mit einem Satzadverb (That was a shot indeed!) oder machen die Qualifizierung durch ein Adjektiv explizit (That was a fine shot!).
63 Die Termini quomodo-wie und quantopere-wie (‚wie sehr‘) wurden 1987 vom Verfasser in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt: Wie hat sie das gemacht? vs. Wie hat sie da gelacht! (Näf 1987: 145), cf. dazu Thurmair 2001: 69. Diese Unterscheidung ist auch für das Englische relevant: How they deceived her! (‘greatly’) vs. How they deceived her? (‘by what means’), cf. Huddleston/Pullum (2002: 919).
64 Die wie-Exklamativsätze sind auch im Korpus von Hnatik (2009: 257) die mit Abstand frequenteste Struktur, auf die fast ein Drittel (32.1 %) aller Belege entfällt.
65 Der hohe Anteil von Belegen mit Verb-Endstellung dürfte damit zusammenhängen, dass es sich bei den meisten wie-Exklamativsätzen um kurze, meist dreigliedrige Strukturen vom Typ Wie gut das tat (ibd.: 12) handelt; diese zeigen ganz generell eine Präferenz für Endstellung.
66 Auch im Englischen dominieren beim quantopere-how die Adjektive (How beautiful she is!) mit einem Anteil von 65,2 % (Collins 2005: 10); dazu kann man auch noch die (im Englischen im Gegensatz zum Deutschen morphologisch markierten) Adjektivadverbien mit einem Anteil von 23,9 % rechnen (How beautifully she sings!). 67 Das in diesen Sätzen auftretende, inhaltlich banale Verb (sein, haben, etc.) kann meist ebenso gut wegbleiben: Was für eine zermürbende Anstrengung musste das sein (ibd.: 79). Bei einer Satzstruktur wie |Was für ein Leben hatte ich geführt| lässt sich ohne Ko(n)text nicht entscheiden, ob ein Interrogativoder ein Exklamativsatz vorliegt. Im vorliegenden Fall (Stamm 2018: 104) können wir aufgrund des Fragezeichens davon ausgehen, dass es sich um einen Fragesatz handelt. Die von den Autoren vergebenen Satzschlusszeichen sind aber nicht in allen Fällen ein eindeutiges Indiz für die tatsächlich vorliegende Satzart. Bei einer mündlichen Realisierung solcher intonatorischer Minimalpaare ist die Satzart jedoch zweifelsfrei diagnostizierbar.
68 In zwei Werken von Goethe, dem Roman Die Leiden des jungen Werthers und der Tragödie Faust I und II, treten insgesamt 160 Exklamativsätze auf, wobei bereits wie im Gegenwartsdeutsch die Struktur mit quantoperewie deutlich dominiert (112 Belege oder 70 %), z. B. der Eingangssatz des Werthers. Wie froh bin ich, dass ich weg bin! (Goethe 1774/1981: 7). Dagegen sind die welch (ein)-Sätze noch mehr als dreimal so häufig wie die was für (ein)-Strukturen, z. B. Welch ein Ächzen, welch Gestöhn/Dringt herauf zu unsern Höhn! (Faust II, Vers 7662f., Goethe 1832/1981: 233). In einem Korpus von Exklamativsätzen aus dem 18. Jahrhundert (Datenbasis: 13 bürgerliche Trauerspiele) findet Mucha (2016) folgende Verteilung der Untertypen: wie-Sätze (135 Belege), welch (ein)-Sätze (84 Belege) und was für (ein)-Sätze (64 Belege). 69 Das gilt namentlich für Quirk et al. (1985: 803, 833–835), Biber et al. (1999) sowie Huddleston/Pullum (2002: 918–923). In anderen linguistischen Abhandlungen zum Englischen wird der Begriff Exklamativsatz dagegen weiter gefasst, indem er auch Strukturen umfasst, die wir hier bei den Varianten oder den Konkurrenzformen eingeordnet haben. 70 Wenn wir die in diesen Zahlen enthaltenen Nebensatz-Belege (It’s amazing how calm he is) weglassen, verbleiben noch insgesamt 875 Belege, nämlich 393 howund 482 what-Exklamativsätze.
71 Durch diesen Terminus grenzen wir die Verwendung von how ‚wie sehr‘ in Exklamativsätzen gegenüber dem quomodo-how ab, mit dem nach der Art und Weise, den Umständen etc. gefragt wird (How was your flight?).
72 Im Gegensatz zum quantopere-wie kann auf das quantopere-was nicht unmittelbar das Adjektiv folgen: Wie stur der sein kann vs.*Was stur der sein kann!, cf. Näf (1987: 147f.).
73 Im Korpus von Hnatik (2009: 252f.) haben die elliptischen Verwendungen einen Anteil von 20 %; sie treten in erster Linie bei den welch (ein)und was für (ein)-Strukturen auf.
74 Im Anschluss an Karl Bühlers Sprachtheorie (1934) und auf der Basis einer Analyse von Belegen aus der mündlichen Interaktion plädiert Pfeiffer (2016: 39) dafür, Exklamativstrukturen ganz generell als inhärent deiktisches Phänomen aufzufassen. Am besten nachvollziehbar ist diese Sichtweise bei Konstruktionen, für die deiktische Determinative (in erster Linie dieser) konstitutiv sind.
75 Diese Konstruktion hat ihren Ausgangspunkt eventuell beim emphatischen Loben von landschaftlichen Schönheiten. Cf. dazu Belege wie Diese endlos langen Strecken durch die Wälder, wenn die Sonne um Mitternacht schräg zwischen den Stämmen durchblitzt (Maeder 2009: 41) oder Diese sanften Wellen der Hügelzüge und die Weite des Wassers, an dem wir Schweizer unsere maritimen Sehnsüchte ausleben können (ibd.: 71).
76 Darüber, ob das Partizip mit dem (vorangehenden) direkten Objekt kongruieren (eu/eue) soll oder nicht, divergieren die Auffassungen. Für die gesprochene Sprache spielt dieser hier unhörbare Unterschied ohnehin keine Rolle, im Gegensatz etwa zum Fall La peur que tu nous as fait/faite!
77 Die Zuordnung der (nicht)-alles-Strukturen zu den Faktoder Grad-Exklamativen ist problematisch. In einer Äusserung wie Was du nicht alles liest! bezieht sich die Verwunderung sowohl auf quantitative (ziemlich viel) als auch qualitative Aspekte (Heterogenes, planlos), cf. Hnatik (2009: 125). In dieser Struktur treten ganz marginal neben wie, was und welch auch noch andere w-Wörter auf, z. B. Wem der (nicht) alles geholfen haben will! oder Wo der (nicht) schon überall gewesen ist!, cf. Hnatik (2009: 257). Die Aufmerksamkeit, die diesen Konstruktionen in der Forschung zuteilwurde, steht in auffälligem Gegensatz zu deren sehr seltenem Auftreten.
78 Cf. Näf (1987: 151). Bei Auer (2016: 74) ist in gleichem Sinne von „Vorlaufelementen“ die Rede. Im Schweizerdeutschen ist umgangssprachlich auch Läck ziemlich verbreitet: Läck, isch das cool! Über die Auftretensfrequenz der Exklamativsätze in den Dialekten existieren meines Wissens bislang keine Daten. In der kürzlich erschienenen Übersetzung des Petit Prince von Saint-Exupéry in den Appenzeller Dialekt (Saint-Exupéry/Manser 2020) dominieren die – wenig salienten, aber wohl deshalb durchgehend Modalpartikeln aufweisenden – VerbZweit-Strukturen (Da ischt etz abe intressant ibd.: 68), aber auch Verb-Erst(Ischt etz daa abe intressant ibd.: 54) und wie-Konstruktionen (Ond wie wädli (‚schnell‘) isch passiet! ibd.: 91) kommen vor.
79 Önnerfors (1997: 31) betrachtet diese Strukturen als (emphatisch verwendete) Deklarativsätze. Im Gegensatz zu anderen Grammatikern zählt auch Collins (2005: 5) diese Verb-Erst-Struktur nicht zu den Exklamativsätzen.
80 Cf. dazu die Diskussion bei Önnerfors (1997: 31).
81 Auch im Deutschen scheint an dieser Strukturstelle das Verb sein zu dominieren (War das ein fröhliches Wiedersehen!). Für diese schwachtonige Position vor dem die Hauptbetonung tragenden Pronomen eignen sich offenbar vor allem kurze und „leichtgewichtige“ Verben. Näheres dazu bei Näf (1996: 148).
82 Die Anwendung dieser Struktur auf Personen ist zwar nicht ausgeschlossen, aber nicht typisch: Wie cool ist der denn! (Auer 2016: 77).
83 Eine hochgradig verfestigte Struktur und eine nicht aus den Bestandteilen ableitbare pragmatische Funktion sind nach Auer die beiden Hauptkriterien für Konstruktionsstatus im Sinne der Konstruktionsgrammatik (Auer 2016: 70).
84 Finkbeiner (2015) rechnet diese Struktur nicht zu den Exklamativsätzen, sondern sieht in dieser eine spezifische Konstruktion für den Ausdruck von Bewertungshandlungen.
85 Die Konstruktion mit solch anstelle von so ist gemäss Duden-Wörterbuch in zehn Bänden (1999) gehoben: bei solch herrlichem Wetter. 86Zwei umgangssprachliche Varianten des tantopere-so sind ganz schön und sowas von, z. B. Der ist ganz schön stur; Du bist sowas von gemein.
87 Seit Milner gelten diese Strukturen im Französischen als unvollständige Exklamative: Es ist so schönes Wetter! [dass man es fast nicht glauben kann], cf. Gachet/Corminboeuf (2012: 12).
88 Nicht-negierte Propositionen scheinen aber nicht ausgeschlossen zu sein: Wenn das ein Frust war! Diese Konstruktion existiert auch im Englischen und scheint dort nur in negativer Form aufzutreten: If this isn’t cute (Siemund 2018: 307), cf. franz. Si ça n’est pas mignon, dt. Wenn das nicht süss ist! Im Deutschen würde man aber in einer analogen Situation eher zu einer rhetorischen Frage greifen: Ist das nicht süss?
89 Mit Bezug auf den Gebrauch von Nebensatzstrukturen als unabhängigen Sätzen wird in der englischsprachigen Fachliteratur neuerdings der Ausdruck insubordination verwendet, cf. Siemund (2018: 311–319).
90 Bei Biber et al. (1999: 909) werden derartige Konstruktionen als „declarative main clauses which have exclamatory force“ (z. B. Charming you are!) unter der Rubrik Anfangsstellungen (Fronting) besprochen.
91 Zu den de facto existierenden Kombinationsmöglichkeiten cf. die Tabelle bei Näf (1987: 143f).
HTML generado a partir de XML-JATS4R por