Servicios
Descargas
Buscar
Idiomas
P. Completa
Subjektive und objektive Daten in der Sprachwandelforschung. Ergebnisse aus dem deutsch-niederländischen Grenzgebiet
Helmut H. Spiekermann
Helmut H. Spiekermann
Subjektive und objektive Daten in der Sprachwandelforschung. Ergebnisse aus dem deutsch-niederländischen Grenzgebiet
Linguistik online, vol. 110, núm. 5, pp. 33-49, 2021
Universität Bern
resúmenes
secciones
referencias
imágenes

Abstract: Language change is generally regarded as change of linguistic items or of the language system. In this sense it might be described and explained by the observation of varying use and evaluation of language. Developments concerning the conditions of use and the characteristics of evaluation are rarely regarded as cases of language change itself. Recently, however, there seems to be a shift towards a wider understanding of language change, distinguishing change of structure, use and evaluation. This shift is accompanied by the distinction of subjective and objective language data. Studies that combine objective and subjective data enable a comprehensive view of the characteristics and causes of language change.

The present paper uses data from speakers of two different age groups from the Grafschaft Bentheim district on the German-Dutch border to illustrate the mutual dependency of structural and evaluative language change. The investigation will be carried out in an apparent-time-analysis based on a translation tasks (as a type of objective data) and semantic differentials (subjective data). Although the attested differences between the age groups turned out to be comparatively small, there are correlations between the results regarding subjective and objective data to be stated.

Carátula del artículo

Artikel/Articles

Subjektive und objektive Daten in der Sprachwandelforschung. Ergebnisse aus dem deutsch-niederländischen Grenzgebiet

Helmut H. Spiekermann
Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Alemania
Linguistik online, vol. 110, núm. 5, pp. 33-49, 2021
Universität Bern
1 Einleitung

Die Erforschung der sprachlichen Verhältnisse an der deutsch-niederländischen Grenze bietet für unterschiedliche Fragestellungen ein interessantes Untersuchungsfeld. In den letzten Jahren sind hier unter anderem Studien zu Fragen des Einflusses der Staatsgrenze auf das historische kontinentalgermanische Dialektkontinuum entstanden (Giesbers 2008; Smits 2011; GärtnerHohenstein 2021, die mit anderen korrelieren, die u. a. die Situation an der deutsch-belgischen (Gerritsen 1999) oder der deutsch-französischen (Auer et al. 2015; Pfeiffer 2019) Grenze in den Blick nehmen. Gemeinsam ist diesen Studien, dass sich die Staatsgrenze nicht mehr nur als Sprachgrenze – d. h. bezogen auf die jeweiligen nationalen Standardsprachen – zeigt, sondern zunehmend auch als Dialektgrenze. Es hat sich spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts offenbar ein Sprachwandel dergestalt vollzogen, dass sich die Dialekte diesund jenseits der Grenze auseinanderentwickelt haben. Smits (2011) untersucht in diesem Zusammenhang Sprachwandelerscheinungen, die er als „Strukturverlust“ und „Funktionsverlust“ differenziert. Gärtner-Hohenstein (2021) betrachtet außerdem als dritten Aspekt einen „Werteverlust“ und nimmt dadurch die Ebene der Sprachbewertung mit in den Fokus der Untersuchung. Alle drei Aspekte interagieren miteinander, sind diesund jenseits der Grenze jeweils speziell ausgeprägt und liefern damit ein theoretisches Modell, in dem sowohl der strukturelle Wandel an sich, als auch dessen Ursachen und Auswirkungen erforscht werden können.

In vorliegendem Beitrag soll an dieses Modell angeknüpft werden. Am Beispiel von Sprachdaten aus der Grafschaft Bentheim, die im westlichen Niedersachsen, unmittelbar an der deutschniederländischen Grenze liegt, soll in einer apparent-time-Studie untersucht werden, ob es zu einem Wandel in der Dialektkompetenz bzw. im Wissen über den niederdeutschen Dialekt kommt. Erwartet wird, dass – ähnlich wie in o. g. Studien – der Einfluss der Standardsprache als eine besonders bedeutsame Ursache für einen zunehmenden Verlust niederdeutscher Sprachkompetenz (und damit auch für das Auseinanderdriften der Dialekte diesund jenseits der Staatsgrenze) ermittelt werden kann. Anschließend sollen die Ergebnisse der Studie mit denen einer zweiten korreliert werden, in der es auf der Basis von Daten zu Semantischen Differentialen um die Bewertung des niederdeutschen Dialekts im Kontrast zur Standardsprache geht. Erwartet wird, dass sich eine zunehmend kritische Bewertung des Niederdeutschen in bestimmten Wertedimensionen ergibt, die als Erklärung für einen Rückgang niederdeutscher Sprachkompetenzen herangezogen werden kann.

Die hier vorgestellten Studien berücksichtigen sowohl objektive, d. h. von außen neutral beobachtbare, als auch subjektive, d. h. nach individuellem Empfinden oder Glauben geäußerte Daten. Diese Verknüpfung beider Datentypen lässt sich in jüngeren Studien (z. B. Stoeckle/Hansen-Morat 2014) und Forschungsprojekten (u. a. im SiN-Projekt, cf. Elmentaler et al. 2015) als ein grundlegendes Forschungsparadigma der „Neuen Dialektologie“ finden. Es soll auch in vorliegendem Aufsatz angewendet werden

2 Sprachwandel aus multidimensionaler Perspektive

Die Beschreibung von Sprachwandel erfolgt in der Regel über die Erfassung der Veränderung von strukturellen Eigenschaften von Sprachen.1 Sprachwandel in diesem Sinne berücksichtigt Funktionen (z. B. Gebrauchsdomänen) oder Bewertungen grundsätzlich nur als Erklärungen, Faktoren oder Prinzipien für seinen Ablauf (so auch Chambers 1995; Labov 2001 u. a.). Dass Sprachwandel jedoch auch so verstanden werden kann, dass er nicht nur auf die Struktur bezogen ist, soll im Folgenden diskutiert werden.

2.1 Sprachwandel als Struktur-, Funktionsund Werteveränderung

Hans-Jürgen Sasse (1992) stellt in seiner Theorie des Sprachentodes eine Verbindung zwischen Sprachstrukturen, sprachlichem Verhalten und „äußerungen Bedingungen“ („external settings“, ibd.: 10) her, zu denen auch Einstellungen zu Sprachen und Varietäten gehören. In seinem Modell besteht zwischen den drei Faktoren ein enges Verhältnis in dem Sinne, dass u. a. eine negative Einstellungen zu einer Sprache oder Sprachlage/Varietät Auswirkungen auf den Gebrauch derselben hat und in Konsequenz zu einer Veränderung der Sprachstrukturen führen kann. Durch andere Entwicklungen und Rückkopplungen zwischen den Faktoren kann es im negativsten Fall zu einer nicht umkehrbaren Entwicklung kommen, bei der am Ende der Tod einer Sprache oder Varietät steht. Ein zentrales Element seines Modells ist, dass die Rückkopplungen nicht einseitig sind, d. h. Veränderungen in den Einstellungen können Ursache sein für Veränderungen im Verhalten und in strukturellen Eigenschaften der Sprache, jedoch sind auch andersherum strukturelle Bedingungen, z. B. Lücken im Wortschatz oder in der Grammatik, Ursachen für Entwicklungen des Gebrauchs und der Einstellungen. Ohne den Extremfall des Sprachentodes weiter verfolgen zu wollen, verdeutlich das Modell Sasses doch, dass zwischen Sprachstrukturen, Sprachgebrauch und Spracheinstellungen aus der Perspektve des Sprachwandels ein enges und gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis besteht. Die eingangs im Zusammenhag mit der Entwicklung der Dialekte an der deutsch-niederländischen Grenze angesprochenen Entwicklungen Struktur-, Funktionsund Werteverlust (oder besser: -veränderung) lassen sich an die von Sasse angesprochenen Faktoren anschließen und sollen im Folgenden näher beschrieben werden.

Für die niederdeutschen Dialekte an der deutsch-niederländischen Grenze haben Kremer (1979 und 1991), Giesbers (2008), Smits (2011) und Gärtner-Hohenstein (2021) strukturellen Dialektabbau konstatiert. Dabei spielt die Übernahme standardsprachlicher Strukturen eine wesentliche Rolle, ist aber nicht die einzige beobachtbare Form des Strukturverlustes. Smits (2011:41) erklärt, dass auch aus anderen Dialekten – insbesondere aus solchen mit großräumiger Verbeitung – Strukturen übernommen werden können. Beide Entwicklungen führen zum Abbau kleinräumiger, lokaler Dialektformen. Dies lässt sich als ein Prozess beschreiben, der zur Ausbildung von Sprachlagen beiträgt, die von Bellmann (1983) dem „Neuen Substandard“ zugeordnet werden. Nach Schmidt (1998), Auer (2005) u. a. bilden sich hier Regionaldialekte bzw. Regiolekte im Zwischenbereich von Basisdialekt und Standardsprache aus. In Norddeutschland sind diese geeignet, die alten niederdeutschen Basisdialekte gänzlich zu ersetzen, so dass es hier an vielen Orten zu einem vollständigen Dialektverlust kommt.

Funktionsverlust lässt sich auch als Gebrauchsverlust fassen und meint, dass insbesondere Dialekte in zunehmendem Maße an Gebrauchsdomänen verlieren und die Frequenz des Gebrauchs sinkt. Im Gegensatz dazu erhält die Standardsprache2 bzw. erhalten standardnahe Sprachlagen des Neuen Substandards im gesprochensprachlichen Bereich3 einen Funktionsgewinn. Sprachdemoskopische Untersuchungen (zuletzt Adler et al. 2016) zeigen für das Niederdeutsche, dass in vielen Fällen nur noch nähesprachliche Bereiche als Domäne des Niederdeutschen erscheinen und auch hier die Gebrauchshäufigkeit mit dem Alter der Sprecher und Sprecherinnen korreliert: Jüngere Sprecher/Sprecherinnen greifen zunehmend auf standardnahe Varietäten zurück. Einen Rückgang des Dialektgebrauchs konstatiert Smits (2011) für jüngere Probanden in Vreden im Vergleich mit älteren sowie Giesbers (2008) für eine Reihe von Orten an der deutsch-niederländischen Grenze. Gärtner-Hohenstein (2021) kann in ihrer Studie, in der mit Wesuwe und Herzlake auch zwei Orte im Landkreis Emsland unmittelbar an der deutsch-niederländischen Grenze untersucht wurden, ebenfalls einen klaren Funktionsverlust für die niederdeutschen Dialekte feststellen, wobei sich mit den zwischen 1960 und 1970 Geborenen ein „Knick“ in der Entwicklung in der Hinsicht ergibt, dass Gebrauchshäufigkeiten erheblich zurückgehen. Wiggers (2013) zeigt in einer Studie zum Sprachgebrauch im Beruf, dass das Niederdeutsche im Emsland und in der Grafschaft Bentheim durchaus noch in einem relevanten Umfang (9% nur Plattdeutsch, 49% Hochdeutsch und Plattdeutsch) verwendet wird, und dies nicht nur in handwerklichen, sondern auch in kommunikationsorientierten Berufen wie im Bankgewerbe und in der Krankenpflege. Für das Emsland insgesamt zeigen Robben/Robben (1993), dass Schulkinder in den 1990er Jahren nur in Ausnahmefällen Niederdeutsch sprechen. Niederdeutsch ist auch als Sprache der Familie praktisch nicht mehr existent. Niederdeutsch erlebt in vielen Regionen einen Wandel von einer Alltagssprache hin zu einer Kultursprache, die primär im niederdeutschen Theater, in der Musik oder Literatur begegnet und dort gepflegt wird.

Ein Werteverlust wird im Fall von Dialekten des Deutschen in der Regel im Kontrast zur Bewertung des Standarddeutschen gemessen. In Norddeutschland kann bis in die 1970er Jahren auch von einer weitreichenden Stigmatisierung der niederdeutschen Dialekte ausgegangen werden, die im Vergleich zum Standarddeutschen als rückständig betrachtet wurden. Der Gebrauch des Standarddeutschen wurde im Gegensatz dazu als Zeichen von Bildung betrachtet. In den 1970er und 80er Jahren kam es zu einer „Mundartwelle“, die das Interesse an den lokalen Dialekten und auch deren Bewertung erhöhte (cf. hierzu u. a. Mattheier 1980; Macha 1986). Sprachdemoskopische Umfragen (zuletzt Adler et al. 2016) zeigen eine insgesamt überaus positive Beurteilung der niederdeutschen Dialekte durch ihre Sprecher und Sprecherinnen. Kleinräumigere Studien deuten auch für das Emsland und die Grafschaft Bentheim auf ein großes Interesse an der niederdeutschen Sprache hin. Gärtner-Hohenstein (2021) kann in ihrer Studie anhand Semantischer Differentiale darlegen, in welchen Bewertungsund Funktionsdimensionen niederdeutsche Dialekte im Kontrast zum Standarddeutschen besser oder schlechter beurteilt werden. Es zeigen sich hier typische Muster, die eine differenzierte Betrachtung von Beurteilungskategorien ermöglichen. So werden die niederdeutschen Dialekte bzgl. ihres Ausdruckvermögens und ihrer Lebendigkeit deutlich besser bewertet als die Standardsprache. Diese Bewertungsdimension kann dafür verantwortlich sein, dass niederdeutsche Dialekte insgesamt positiv beurteilt werden. Wenn jedoch der Gebrauch in formellen Situationen oder aber die multifunktionale Verwendbarkeit im Fokus steht, wird die Standardsprache bevorzugt. Es wird deutlich, dass Gebrauch und Bewertung miteinander interagieren und Funktionsund Werteveränderungen damit als relevante Ebenen des Sprachwandels betrachtet werden können.

2.2 Subjektive und objektive Daten

Wie lässt sich nun Sprachwandel im oben beschriebenen Sinne untersuchen? Ein wesentlicher Faktor ist die Sammlung multivariabler Daten, die Aussagen über Sprachstrukturen ebenso zulassen wie über Sprachgebrauch und -einstellungen. Im SiN-Projekt („Sprachvariation in Norddeutschland“, cf. Elemtaler et al. 2015) wurde ein solcher multivariabler Ansatz am Beispiel der sprachlichen Verhältnisse im (ehemals) niederdeutschen Sprachgebiet umgesetzt, indem „objektive Daten“ in Form von freien, monologischen Gesprächen, Tischgesprächen, Übersetzungen in den lokalen Dialekt sowie eines leitfadengesteuerten Interviews „subjektiven Daten“ gegenübergestellt wurden, die aus experimentellen und Interviewdaten bestanden, die Rückschlüsse auf Einstellungen, Sprachwissen und Sprachbiographien zulassen (Elmentaler et al. 2015: 401f.). Korrelationen zwischen Sprachwissen, Sprachgebrauch und Spracheinstellungen nimmt auch Gärtner-Hohenstein in ihrer Dissertation (2021) vor, wenn sie Übersetzungen in den lokalen Dialekten auf Interviewdaten zum Sprachgebrauch und mit Wahrnehmungsund Einstellungsdaten abbildet und Korrelationen feststellt. Wie das SiNProjekt stellt auch Gärtner-Hohenstein für die Beschreibung eines Sprachwandels einen apparent-time-Vergleich an, indem Sprecher und Sprecherinnen (im SiN-Projekt nur Sprecherinnen) aus verschiedenen Altersgruppen befragt wurden, unter der Annahme, dass die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Sprechergenerationen sich im Gebrauch älterer und modernerer Formen ausdrückt.

Die Auswertung subjektiver Aussagen ist lange Zeit kritisiert worden, da ihre Verlässlichkeit und ihre Aussagekraft in Zweifel gezogen worden sind. Frühe Befürworter der systematischen Erhebung subjektiver Daten wie Hoenigswald (1966) oder Labov (1972) weisen darauf hin, dass subjektive, individuelle Reaktionen auf und Bewertungen von sprachlichem Verhalten als Teil (sozio-)linguistischer Forschung angesehen werden sollte. Dies wird heute in vielen Studien (siehe oben) umgesetzt.

3 Studie zum Sprachwandel an der deutsch-niederländischen Grenze
3.1 Das „Emsland-Projekt“: Daten und Methoden

Die in vorliegendem Aufsatz verwendeten Daten stammen aus dem „Emsland-Projekt“, das am Centrum für Niederdeutsch (CfN) in Münster durchgeführt wird (cf. zum Projekt auch Spiekermann 2020). Ziel des Projektes ist eine umfassende dialektologische und soziolinguistische Untersuchung der sprachlichen Verhältnisse in den Landkreisen Emsland und Grafschaft Bentheim im westlichen Niedersachsen. Die Region ist durch eine historische Mehrsprachigkeit Niederdeutsch-Hochdeutsch/Standarddeutsch geprägt und weist nicht zuletzt aufgrund der Nähe zur deutsch-niederländischen Staatsgrenze bedeutsame niederländische Einflüsse auf (cf. hierzu insb. Bolks 2004 und Taubken 1981). Die Grundlage des Projektes sollen Daten aus insgesamt 23 Orten bieten, die gleichmäßig über das gesamte Untersuchungsgebiet verteilt sind. Es werden sowohl objektive als auch subjektive Daten erhoben, um Aussagen (a) zu Strukturen der im Gebiet vorzufindenden Sprachlagen im DialektStandard-Spektrum, (b) zum Gebrauch und (c) zum Wissen über die Sprachlagen und (d) zu deren Bewertung zu ermitteln. In den folgenden Studien werden Daten aus drei Orten in der Grafschaft Bentheim ausgewertet, nämlich aus Nordhorn, Emlichheim und Itterbeck (in Abbildung 1 durch N, E resp. I markiert).


Abbildung 1
Erhebungsorte im Untersuchungsgebiet, Karte aus: Taubken (1985: 275)

In den drei Orten wird – neben dem regionalen Gebrauchsstandard – Bentheimerischer Dialekt gesprochen. Emlichheim und Itterbeck befinden sich in der Niedergrafschaft, das Verwaltungsund Industriezentrum der Grafschaft Bentheim, Nordhorn, liegt im Übergangsgebiet zwischen Niederund Obergrafschaft und lässt sich aufgrund seiner städtischen Prägung sprachlich als Sonderfall im Landkreis bezeichnen.

In jedem Untersuchungsort wurden niederdeutschkompetente Sprecher und Sprecherinnen (zwischen zehn und 13) aus zwei Altergruppen (35–45 Jahre vs. 65 Jahre und älter4) befragt. Die Datenerhebung im Rahmen des Emsland-Projektes umfasste neben einem Interview zu Sozialdaten und Sprachgebrauch unterschiedliche Aufgaben, deren Analyse Aussagen über Sprachkompetenzen/-wissen, Sprachgebrauch und Spracheinstellungen zulassen. Zu diesen Aufgaben gehörten (1) die Übersetzung von insgesamt 140 kurzen Sätzen aus dem Hochdeutschen ins Niederdeutsche mit dem Ziel, die Niederdeutschkompetenz bzw. das noch abrufbare Wissen über das Niederdeutsche zu ermitteln, sowie (2) die Bewertung von Dialekt und Standardsprache auf der Basis Semantischer Differentiale (cf. Osgood 1952). Beide Aufgaben werden im Folgenden kurz erläutert.

Die Übersetzung von hochdeutschen Sätzen bildet die Grundlage einer Variablenanalyse, deren Ziel die Erfassung von Strukturmerkmalen auf unterschiedlichen linguistischen Ebenen ist. Abgebildet wird das individuelle reflektierte Wissen über das Niederdeutsche, d. h. im Spektrum zwischen Dialekt und Standardsprache eine maximal dialektnahe Sprachlage. Durch die Testsätze wird das Vorkommen typischer Merkmale des Niederdeutschen allgemein (nach Maßgabe von Sass 2011) bzw. des Emsländischen, Lingenschen und Bentheimerischen (nach Schönhoff 1908; Rakers 1944, 1993 und Taubken 1985) geprüft. Da für vorliegenden Aufsatz nicht alle Merkmale dargestellt werden können, wurde folgende Auswahl an Untersuchungsvariablen (siehe Tabelle 1) getroffen (cf. auch Spiekermann/Hohenstein 2015):

Tabelle 1
Linguistische Variablen mit Varianten

In Tabelle 1 sind die erwarteten bzw. in den Daten belegten standarddeutschen und niederdeutschen Varianten der Variablen gelistet. Das Vorkommen der Varianten wird statistisch erfasst.

Die Bewertung von Standardsprache und niederdeutschem Dialekt erfolgt nach Semantischen Differentialen, die von Osgood (1952) entwickelt und in der deutschsprachigen Soziolinguistik insbesondere von Jäger/Schiller (1983) etabliert wurden. Grundgedanke ist, subjektive Konzepte von Hochsprache/Standardsprache und Dialekt (dieser in Selbstund angenommener Fremdbewertung) auf der Basis von adjektivischen Gegensatzpaaren systematisch zu erfassen. Dies erfolgt in der Regel über einen Fragebogen, in dem entlang einer Skala Zuordnungen vorgenommen werden sollen (siehe Abbildung 2).


Abbildung 2
Ausschnitt aus Fragebogen zu Semantischen Differentialen

Die Adjektivpaare werden Bewertungsund Funktionsdimensionen zugeordnet, die es ermöglichen, die bewerteten Sprachen oder Sprachlagen typischen Funktionsund Gebrauchskontexten zuzuordnen. Insgesamt unterscheiden Jäger/Schiller (1983) fünf Bewertungsund Funktionsdimensionen:

  1. 1.
  2. 2. den Eigenwert der Sprache oder Sprachlage, mit dem Aussagen über das Ausdrucksvermögen, die Lebendigkeit oder Kraft gemacht werden können,
  3. 3. den Gebrauchswert, der sich auf die Funktionalität bezieht,
  4. 4. den Sozialwert, der u. a. typische Gebrauchssituationen (hier vor allem die formelle) erfasst,
  5. 5. den Kommunikationswert, der die kommunikative Potenz der betrachteten Sprachen und Sprachlagen beschreibt, und schließlich
  6. 6. den Systemwert, durch den Aussagen über die wahrgenommenen formalstrukturellen Eigenschaften der Sprache bzw. Sprachlage als System getroffen werden können.

Die folgende Übersicht gibt einen Überblick über die Zuordnung der Adjektivpaare (hier nur die positiven Werte) zu den Bewertungsdimensionen, wobei dies nur eine Annäherung darstellt, da je nach betrachteter Sprachform unterschiedliche Variablen für die Bewertung als relevant (oder: „leitend“, Jäger/Schiller 1983:77) angenommen werden müssten. Auch deshalb ist die Zuordnung der Adjektivpaare zu den Dimensionen sicherlich diskutabel und lässt sich teilweise auch nicht eindeutig treffen. Aus diesem Grund erscheinen einzelne Adjektive auch in mehr als einer Bewertungsdimension (dies gilt für <genau>).

Tabelle 2
Bewertungsund Funktionsdimensionen mit zugeordneten Adjektiven

Für eine interpretative Analyse der Ergebnisse ist die Berücksichtigung der Bewertungsund Funktionsdimensionen, die aus den Werten der zugeordneten Adjektivpaare berechnet warden können, von entscheidender Bedeutung. Sie ist für eine differenzierte Betrachtung dessen, was unter „Bewertung“ oder „Einstellung“ verstanden wird, von großer Nützlichkeit. Es ist zu erwarten, dass Sprachen oder Sprachlagen, da wir diese ja angepasst an Situationen, Gesprächspartner, Themen und Funktionen möglichst adäquat verwenden, nach unterschiedlichen Bewertungsdimensionen als besser oder weniger gut geeignet betrachtet werden. „Bewertung“ kann daher nicht eindimensional sein, sondern muss sich in verschiedene Dimensionen aufspalten. So wäre auch im Vergleich von Standardsprache und niederdeutschem Dialekt erwartbar, dass Stärken und Schwächen je nach Dimension variieren.

3.2 Ergebnisse

Im Folgenden wird zunächst die Studie zu Übersetzungen hochdeutscher Sätze in den lokalen niederdeutschen Dialekt diskutiert. Dabei wird in zwei Schritten vorgegangen. Zunächst werden die Ergebnisse für die drei Untersuchungsorte im Vergleich zueinander dargestellt. Es lassen sich dadurch dialektgeographische Aussagen treffen. In einem zweiten Schritt folgt dann durch einen Vergleich der Altersgruppen im Sinne einer apparent-time-Analyse eine Diskussion bzgl. eines beobachtbaren Sprachwandels.

Abbildung 3 gibt einen Überblick über die Realisierungshäufigkeiten der niederdeutschen Varianten (in Prozent) nach Erhebungsort.


Abbildung 3
Gesamtergebnisse Variablenanalyse nach Ort (Werte in %)5

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die niederdeutschen Dialekte in den drei Erhebungsorten insgesamt sehr große strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen. In vielen Fällen sind typisch niederdeutsche (wie die Bewahrung des unverschobenen westgermanischen Plosivs /t/ in <dat>, <wat> und <ut> oder der Einheitsplural der Verben) sowie Bentheimerische Varianten (wie der Ausdruck <Taofel> für <Tisch>) in 100% (oder nahezu 100%) der Fälle realisiert, andere in anderen Dialektregionen ggf. übliche Formen (wie die doppelte Negation) jedoch einheitlich nicht. In wenigen Fällen gibt es zwischen den Erhebungsorten Unterschiede. So wird in Nordhorn keine lokale oder regionale Variante für das Lexem <Schmetterling> verwendet, während in den beiden anderen Orten durchaus regionale Varianten (insb. <Spannvogel>) genannt wurden. Vom Standarddeutschen abweichende Genuszuweisungen (Neutrum statt Maskulinum in <dat Sand>) sind nur in Itterbeck belegt. Bzgl. der Diminutivbildung gibt es eine interessante Variation: Während in Itterbeck die auch in anderen niederdeutschen Dialekten verbreitete synthetisch gebildete Variante auf {+ken} bevorzugt wird (also z. B. <Äppelken> oder <Böömken>), werden in Emlichheim und (etwas seltener) in Nordhorn Bildungen auf {+i(n)} (z. B. <Äppelti> und <Böömpi>) verwendet, die auf niederländischen Einfluss hindeuten. Insgesamt gesehen zeigen die in Abbildung 3 dargestellten Ergebnisse jedoch für die drei hier behandelten Untersuchungsorte ein sehr homogenes Bild. In den Fällen, in denen keine niederdeutschen Varianten gebraucht werden, erscheint nahezu ausschließlich die standarddeutsche Alternative.

In Abbildung 4 werden die Ergebnisse abhängig von den beiden unterschiedenen Altersgruppen 35–45 Jahre vs. 65 Jahre und älter dargestellt.


Abbildung 4
Gesamtergebnisse Variablenanalyse nach Altersgruppe (Werte in %)

Grundsätzlich sind die Unterschiede zwischen den beiden Altersgruppen gering. Tendenziell lässt sich eine höhere Dialektkompetenz in der älteren Sprechergruppe feststellen, wobei dies insbesondere bei den tiefdialektalen Merkmalen Diminutivbildung (hier insbesondere die regionaltypischen Bildungen auf {+i(n)}) und Genusunterschied (am Beispiel von <Sand>, siehe oben) deutlich wird. In gut der Hälfte der analysierten Variablen liegen die Werte in der Gruppe der älteren Sprecher und Sprecherinnen über denen der jüngeren, in zwei Fällen ist das Ergebnis jedoch umgekehrt: Bei der Bildung des Plurals mit {+s} sowie bei der Verwendung der lokalen Variante für das Lexem <Schmetterling>. In beiden Fällen sind die Unterschiede in den Realisierungswerten jedoch gering.

Dass sich zwischen den Altersgruppen Differenzen zeigen, die auf einen Abbau der dialektalen Merkmale hindeuten, ist keine Überraschung (siehe hierzu auch Abschnitt 2.1). Für die Grafschaft Bentheim scheint dagegen bemerkenswert, dass die Unterschiede zwischen den beiden Generationen insgesamt sehr gering ausfallen, d. h. ein Strukturverlust, wie er von Smits (2011) und auch von Gärtner-Hohenstein (2021) für die Dialekte an der deutsch-niederländischen Grenze angenommen wird, hier in nur abgeschwächter Form anzutreffen ist.

Kommen wir nun zu den Ergebnissen der Studie zu Semantischen Differentialen. Zunächst sollen auch hier die Ergebnisse im Vergleich der drei Erhebungsorte dargestellt werden. Die folgenden Abbildungen 5 bis 7 zeigen für jeden Ort separat die durchschnittliche Einschätzung der Standardsprache und des eigenen Dialekts, wobei hier zwischen Eigenbewertung (dies erscheint in den Abbildungen als „Dialekt“) und angenommener Fremdbewertung unterschieden wird. Dargestellt sind die Ergebnisse abhängig vom positiven Wert des jeweiligen Adjektivpaars. Die Skala von 1 bis 7 drückt den Grad der Zustimmung aus, mit 7 als höchstem Wert. Die Adjektive sind so angeordnet, dass die Ergebnisse für das Konzept Standardsprache durchgehend steigen.


Abbildung 5
Gesamtüberblick Bewertungen in Nordhorn

Für Nordhorn zeigt sich zunächst einmal eine Tendenz, die auch in den beiden anderen Orten zu beobachten ist, nämlich dass der eigene niederdeutsche Dialekt in der Selbstwahrnehmung nahezu durchgängig positiver bewertet wird als in der angenommen Fremdwahrnehmung. Zum Teil liegen die Unterschiede zwischen den Werten für „Dialekt“ und „Fremdbewertung“ zwischen 2 und 3 Punkten auseinander (so bei <genau> und <klipp und klar>), was gravierend ist. Es deutet sich hier an, dass insbesondere für den Kommunikationswert des Niederdeutschen angenommen wird, dass dieser von außen betrachtet als gering eingeschätzt wird, die Sprecher und Sprecherinnen selbst ihn jedoch für groß und dem Standarddeutschen vergleichbar erachten. Es lässt sich in den Ergebnissen für Nordhorn eine zweite Tendenz erkennen, nämlich die, dass die Bewertung der Standardsprache insgesamt besser ausfällt als die des Niederdeutschen. Dieses Ergebnis ist auch in Emlichheim erkennbar (siehe Abbildung 6). In Nordhorn zeigen sich Abweichungen von dieser Tendenz bei Adjektiven, die sich auf die Bewertungsdimension Eigenwert beziehen (wie <anmutig>, <kräftig> und <anschaulich>), so dass sich Vorteile des Niederdeutschen gegenüber dem Standarddeutschen bzgl. Anschaulichkeit und Lebendigkeit ergeben. Im Gegensatz dazu weist die Standardsprache deutlich höhere Werte als der Dialekt bzgl. der Dimensionen Gebrauchswert (mit <brauchbar>, <notwendig> und <hochwertig>), Sozialwert (mit <fein>) und Systemwert (mit <geordnet> und <treffsicher>) auf.


Abbildung 6
Gesamtüberblick Bewertungen in Emlichheim

In Emlichheim wird das Niederdeutsche (Eigenbewertung) ebenfalls in der Dimension Eigenwert (mit den Adjektiven <echt>, <lebendig>, <kräftig> und <ausdrucksvoll>) positiver beurteilt als die Standardsprache. Es zeigt sich hier also ein wiederkehrendes Muster.

Itterbeck (siehe Abbildung 7) unterscheidet sich von den anderen beiden Erhebungsorten dadurch, dass hier das Niederdeutsche in der Eigenbewertung durchschnittlich etwas besser beurteilt wird als die Standardsprache. Bzgl. der Eigenschaften <lebendig> und <echt> weist sogar die angenommene Fremdbewertung des Niederdeutschen einen etwas höheren Wert auf als die Standardsprache, was darauf hindeutet, dass die Standardsprache bzgl. ihrer Ausdrucksfähigkeit und Lebendigkeit sehr negativ beurteilt wird. Dies ist eine Bestätigung eines Stereotyps der Standardsprache, die oft als emotionsfrei, trocken und grau beschrieben wird (cf. u. a. Spiekermann 2010). Auch in Itterbeck werden in der Dialektbeurteilung besonders hohe Werte bzgl. der Dimension Eigenwert (mit <echt>, <kräftig>, <lebendig>) erreicht.


Abbildung 7
Gesamtüberblick Bewertungen in Itterbeck

In einem zweiten Schritt wird nun auf die Ergebnisse in Abhängigkeit von den beiden differenzierten Altersgruppen eingegangen. Die Abbildungen 8 bis 10 zeigen die ermittelten Werte für die untersuchten Konzepte von Standardsprache, eigenem niederdeutschen Dialekt und angenommener Fremdbewertung des Dialekts insgesamt für die drei Erhebungsorte.

Bzgl. der Beurteilung der Standardsprache (siehe Abbildung 8) lassen sich zwischen den beiden Altersgruppen kaum Unterschiede ermitteln. Insgesamt besteht zwischen den Altersgruppen eine große Übereinstimmung, was die Beurteilung der Standardsprache anbetrifft. Eine Ausnahme stellt die Eigenschaft <anmutig> dar, die in der älteren Generation einen höheren Wert erhält.


Abbildung 8
Beurteilung der Standardsprache abhängig von der Altersgruppe


Abbildung 9
Dialektbeurteilung abhängig von der Altersgruppe

In der Beurteilung des Niederdeutschen (siehe Abbildung 9) zeigen sich bzgl. zweier Beurteilungsund Funktionsdimensionen Unterschiede zwischen den beiden Altersgruppen. Während die jüngere den Dialekt bzgl. seines Eigenwertes (mit den Adjektiven <lebendig>, <kräftig> und <echt>) etwas besser beurteilt als die ältere, gilt dies umgekehrt für die Dimension Kommunikationswert nicht (mit <genau> und <klipp und klar>). Höhere Werte bei <anschaulich> und <treffsicher> deuten an, dass die ältere Probandengruppe auch bzgl. des Systemwerts, d. h. der Systemund Regelhaftigkeit das Niederdeutsche besser beurteilen als die jüngere Gruppe. Hierauf wird in Abschnitt 4 noch einmal eingegangen.


Abbildung 10
Angenommene Fremdbeurteilung des Dialekts abhängig von der Altersgruppe

Die deutlichsten Unterschiede zwischen den Altersgruppen bzgl. der Semantischen Differentiale ergeben sich hinsichtlich der angenommenen Fremdbeurteilung des eigenen Dialekts (siehe Abbildung 10). Im Durchschnitt gehen die Vertreter und Vertreterinnen der jüngeren Gruppe davon aus, dass ihr Dialekt von anderen weniger gut beurteilt wird. Ausnahmen finden sich bzgl. der Beurteilung nach der Dimension Eigenwert. Hier liegen die ermittelten Werte bei den Eigenschaften <ausdrucksvoll>, <kräftig> und <echt> für die jüngere Gruppe etwas höher als für die ältere.

4 Fazit: Struktureller und evaluativer Sprachwandel an der deutsch-niederländischen Grenze

Die in Abschnitt 3 vorgestellten Studien auf der Basis objektver Daten (Übersetzungsaufgaben) zeigen in der apparent-time-Analyse einen schwachen Strukturverlust: Jüngere Sprecher und Sprecherinnen verwenden tendenziell in geringerer Häufigkeit Merkmale des lokalen Dialekts und ersetzen diese in der Regel durch standardsprachliche Entsprechungen. Dieses Ergebnis entspricht denen aus Vergleichsstudien (Smits 2011; Gärtner-Hohenstein 2021), wobei der Strukturverlust in der Grafschaft Bentheim weniger stark ausfällt als in den Vergleichsstudien. Die Nähe zur deutsch-niederländischen Staatsgrenze zeigt sich in wenigen aus dem Niederländischen stammenden Merkmalen, die in einzelnen Untersuchungsorten noch stark vertreten sind (u. a. Diminutivbildungen auf {+(t/p/ch)i(n)}, die besonders in Emlichheim zu finden ist). Die Grenznähe wirkt sich besonders deutlich erkennbar in diesen Fällen offenbar strukturbewahrend aus.

Es lässt sich bzgl. der analysierten subjektiven Daten (Fragebogen) ebenfalls ein Werteverlust mit Bezug auf den Dialekt feststellen. In der Eigenbewertung trifft dies für den Kommunikationsund Systemwert zu, in der angenommenen Fremdbewertung grundsätzlich für alle Bewertungsdimensionen mit Ausnahme des Eigenwertes. Dieser erhält auch in der Eigenbewertung schon von der jüngeren Sprechergruppe ein höheres Ergebnis als in der älteren Gruppe, so dass in diesem Fall kein Werteverlust konstatierbar ist: Auch jüngere Sprecher und Sprecherinnen sehen den Dialekt als lebendig und ausdrucksstark an.

Es zeigt sich nun eine bemerkenswerte Korrelation: In der Gruppe der jüngeren Sprecher und Sprecherinnen werden die kommunikativen Funktionen sowie die formal-strukturellen Eigenschaften des Niederdeutschen schwächer eingeschätzt als in der Gruppe der Älteren. Kommunikationswert und Systemwert gehören nun zu den Bewertungsdimensionen, in denen insgesamt die Standardsprache höhere Ergebnisse erhalten hat als der lokale niederdeutsche Dialekt. Die in den Daten belegte Tendenz, nach der jüngere Probanden häufiger zur Standardsprache neigen als ältere, lässt sich also direkt mit den ermittelten Bewertungskategorien korrelieren: Auch wenn, wie oben gezeigt, Jüngere den hohen Eigenwert des Dialekts anerkennen, ist diese Bewertungsdimension für den Gebrauch offenbar nicht ausschlaggebend. Vielmehr sind die Dimensionen Kommunikationsund Systemwert, in denen die Standardsprache Vorteile gegenüber dem Dialekt aufweist, nach den vorliegenden Ergebnissen entscheidend.

Material suplementario
Literaturverzeichnis
Adler, Astrid et al. (2016): Status und Gebrauch des Niederdeutschen 2016. Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung. Mannheim: Institut für deutsche Sprache.
Auer, Peter (2005): „Europe’s sociolinguistic unity, or: A typology of European dialect/standard constellations“. In: Delbecque, Nicole/van der Auwera, Johan/Geeraerts, Dirk (eds.): Perspectives on Variation. Sociolinguistic, Historical, Comparative. Berlin/New York, de Gruyter: 7–42.
Auer, Peter et al. (2015): „Auswirkungen der Staatsgrenze auf die Sprachsituation im Oberrheingebiet (Frontière linguistique au Rhin Supérieur, FLARS).“ In: Kehrein, Roland/Lameli, Alfred/Rabanus, Stefan (eds.): Regionale Variation des Deutschen. Projekte und Perspektiven. Berlin/Boston, de Gruyter: 323–347.
Barbour, Stephen/Stevenson, Patrick (1998): Variation im Deutschen. Soziolinguistische Perspektiven. Berlin/New York, de Gruyter.
Bellmann, Günther (1983): „Probleme des Substandards im Deutschen“. In: Mattheier, Klaus J. (ed.): Aspekte der Dialekttheorie. Tübingen, Niemeyer: 105–130.
Bolks, Melanie (2004): „Zur Triglossie in der Evangelisch-altreformierten Kirche der Grafschaft Bentheim – eine empirische Untersuchung“. Niederdeutsches Wort 44: 217–233.
Bußmann, Hadumod (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3. Aufl. Stuttgart: Kröner. Chambers, J. K. (1995): Sociolinguistic Theory. Oxford: Blackwell.
Elmentaler, Michaelet al. (2015): „Sprachvariation in Norddeutschland (SiN)“. In: Kehrein, Roland/Lameli, Alfred/Rabanus, Stefan (eds.): Regionale Variation des Deutschen – Projekte und Perspektiven. Berlin/Boston, de Gruyter: 397–424.
Gärtner-Hohenstein, Line-Marie (2021): Konvergenz und Divergenz im kontinentalgermanischen Dialektkontinuum. Köln: Böhlau.
Gerritsen, Marinel (1999): “Divergence of dialects in a linguistic laboratory near the BelgianDutch-German border: Similar dialects under the influence of different standard languages”. Language variation and change 11: 43–65.
Giesbers, Charlotte (2008): Dialecten op de grens van twee talen. Een dialectologisch en sociolinguïstisch onderzoek in het Kleverlands dialectgebied. Groesbeek: Reijingoudt-Giesbers. Hoenigswald, Henry M. (1966): Language change and linguistic reconstruction. Chicago: Chicago University Press.
Jäger, Karl-Heinz/Schiller, Ulrich (1983): „Dialekt und Standardsprache im Urteil von Dialektsprechern. Untersuchungen der Einstellungen von alemannischen Dialektsprecherinnen zu ihrem Dialekt und zur Standardsprache“. Linguistische Berichte 83: 63–95.
Kremer, Ludger (1979): Grenzmundarten und Mundartgrenzen. Untersuchungen zur wortgeographischen Funktion der Staatsgrenze im ostniederländisch-westfälischen Grenzgebiet. Teil 1: Text. Köln/Wien: Böhlau.
Kremer, Ludger (1991): „Zur Entwicklung der Diglossie beiderseits der niederländisch-deutschen Staatsgrenze“. Niederdeutsches Jahrbuch 114: 134–150.
Labov, William (1972): Sociolinguistic Patterns. Philadelphia: University of Pennsylvania. Labov, William (2001): Principals of linguistic change. Social Factors. Oxford: Blackwell. Macha, Jürgen (1986): „Löst die Aufwertung des Dialekts die Probleme von Mundartspre-chern?“ Rheinische Volksblätter 5/3: 30–35.
Mattheier, Klaus Jürgen (1980): Pragmatik und Soziologie der Dialekte: Einführung in die kommunikative Dialektologie des Deutschen. Heidelberg: Quelle & Meyer.
Osgood, Charles E. (1952): „The Nature and Measurement of Meaning“. Psychological Bulletin 49/3: 197–237.
Pfeiffer, Martin (2019): „Grenzüberschreitende Identitäten im badischen Oberrheingebiet. Unterschiede in der Konstruktion sprachlicher und regionaler Verbundenheit mit dem Elsass“. Linguistik Online 98/5: 329–361.
Rakers, Arnold (1944): Die Mundarten der alten Grafschaft Bentheim und ihrer reichsdeutschen und niederländischen Umgebung. Oldenburg: Stalling.
Rakers, Arnold (1993): Mundartatlas der alten Grafschaft Bentheim. Herausgegeben von Hendrik Entjes und Hermann Niebaum. Sögel: Verlag der Emsländischen Landschaft. (= Emsland/Bentheim. Beiträge zur Geschichte 9).
Robben, Bernd/Robben, Eva (1993): „Mundartgebrauch im Kreis Emsland. Eine regionale Schülerund Elternbefragung“. In: Kremer, Ludger (ed.): Diglossiestudien. Dialekt und Hochsprache im niederländisch-deutschen Grenzgebiet. Vreden, Landeskundliches Institut Westmünsterland: 62–99.
Sass (2011) = Sass – Plattdeutsche Grammatik. Formen und Funktionen. Herausgegeben von der Fehrs-Gilde. 2. Aufl. Neumünster: Wachholtz.
Sasse, Hans-Jürgen (1992): „Theory of language death“. In: Brenzinger, Matthias (ed.): Language Death. Factual an Theoretical Explorations with Special Reference to East Africa. Berlin/New York, de Gruyter: 7–30.
Schmidt, Jürgen-Erich (1998): „Moderne Dialektologie und regionale Sprachgeschichte“. Zeitschrift für Deutsche Philologie 117: 163–179.
Schönhoff, Hermann (1908): Vokalismus der unteremsländischen Mundarten auf der Grundlage des Dialekts von Lathen/Emsland. Heidelberg: Winter.
Smits, Tom F. H. (2011): Strukturwandel in Grenzdialekten. Die Konsolidierung der niederländisch-deutschen Staatsgrenze als Dialektgrenze. Stuttgart: Steiner.
Spiekermann, Helmut (2010): „Visualisierungen von Dialekten: Ein Beitrag zum Nutzen der Laiendialektologie“. In: Anders, Christina Ada/Hundt, Markus/Lasch, Alexander (eds.): Perceptual Dialectology. Neue Wege der Dialektologie. Berlin/New York, de Gruyter: 221– 244.
Spiekermann, Helmut H. (2020): „Sprachvariation im Emsland“. In: Bundesraat för Nedderdüütsch & Niederdeutschsekretariat (eds.): Niederdeutsch in der Wissenschaft – aktuelle Projekte und Lehre. Hamburg, BfN & Niederdeutschsekretariat: 48–49.
Spiekermann, Helmut H./Hohenstein, Line-Marie (2015): „Mehrsprachigkeit an der Grenze. Sprachwissen und -wahrnehmung im Emsland und in der Grafschaft Bentheim“. Niederdeutsches Jahrbuch 138: 99–117.
Stoeckle, Philip/Hansen-Morath, Sandra (2014): „Regionaldialekte im alemannischen Dreiländereck – ‚objektive‘ und ‚subjektive‘ Perspektiven“. In: Bergmann, Pia et al. (eds.): Sprache im Gebrauch: räumlich – zeitlich – interaktional. Heidelberg, Winter: 175–192.
Szmrecsanyi, Benedikt (2013): „Variation und Wandel“. In: Auer, Peter (ed.): Sprachwissenschaft. Grammatik – Interaktion – Kognition. Stuttgart, Springer: 261–284.
Taubken, Hans (1981): Niederdeutsch, Niederländisch, Hochdeutsch. Die Geschichte der Schriftsprache in der Stadt und in der ehemaligen Grafschaft Lingen vom 16. bis zum 19, Jahrhundert. Köln: Böhlau.
Taubken, Hans (1985): „Die Mundarten der Kreise Emsland und Grafschaft Bentheim. Teil 1: Zur Lautund Formengeographie“. In: Penners, Theodor (ed.): Emsland/Bentheim. Beiträge zur neueren Geschichte 1. Sögel, Verlag der Emsländischen Landschaft: 271–420.
Wiggers, Heiko (2013): „Plattdeutsch am Arbeitsplatz – eine Umfrage in den regionalen Betrieben der Grafschaft Bentheim und des Emslandes“. Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 120/1: 5–15.
Notas
Fußnote
1 Es ist auffällig, dass in vielen soziolinguistischen/variationslinguistischen Darstellungen – auch in einführenden Werken wie Barbour/Stevenson (1998) oder Szmrecsanyi (2013) der Fachbegriff „Sprachwandel“ nicht wirklich definiert wird. Offenbar wird er als selbsterklärend aufgefasst und als Referenzpunkt ein allgemeingültiger Begriff von „Sprache“ zugrunde gelegt, der diese als System von strukturellen, d. h. phonologischen, morphologischen, syntaktischen und lexikalischen Einheiten begreift. Die klarste Definition von „Sprachwandel“ findet man in linguistischen Wörterbüchern, z. B. Bußmann (2002:638) als Veränderung von „Sprachelementen und Sprachsystemen in der Zeit“.
2 Hiermit ist ein typischerweise in formellen Situationen gebrauchter, an Normen orientierter Gebrauchsstandard gemeint.
3 Im geschriebenen Medium kann man von einer Dominanz der Standardsprache ausgehen.
4 Die exakten Verteilungen lauten: Nordhorn: 10 Probanden, davon 4 aus der Altersgruppe 35–45 und 6 aus der Altersgruppe >65; Itterbeck: 12 Probanden: 4 aus der Altersgruppe 35–45; 8 aus der Altersgruppe >65; Emlich-heim: 12 Probanden: 7 aus der Altersgruppe 35–45, 5 aus der Altersgruppe >65).
5 Die Abkürzungen beziehen sich auf die in Tabelle 1 genannten Variablen.

Abbildung 1
Erhebungsorte im Untersuchungsgebiet, Karte aus: Taubken (1985: 275)
Tabelle 1
Linguistische Variablen mit Varianten


Abbildung 2
Ausschnitt aus Fragebogen zu Semantischen Differentialen
Tabelle 2
Bewertungsund Funktionsdimensionen mit zugeordneten Adjektiven


Abbildung 3
Gesamtergebnisse Variablenanalyse nach Ort (Werte in %)5

Abbildung 4
Gesamtergebnisse Variablenanalyse nach Altersgruppe (Werte in %)

Abbildung 5
Gesamtüberblick Bewertungen in Nordhorn

Abbildung 6
Gesamtüberblick Bewertungen in Emlichheim

Abbildung 7
Gesamtüberblick Bewertungen in Itterbeck

Abbildung 8
Beurteilung der Standardsprache abhängig von der Altersgruppe

Abbildung 9
Dialektbeurteilung abhängig von der Altersgruppe

Abbildung 10
Angenommene Fremdbeurteilung des Dialekts abhängig von der Altersgruppe
Buscar:
Contexto
Descargar
Todas
Imágenes
Visor de artículos científicos generados a partir de XML-JATS4R por Redalyc