Abstract: German sentences with man and Italian sentences with si impersonale or si passivante are often presented as equivalent in contrastive grammars. However, this functional equation proves to be problematic when Italian students refer with man to their own role as authors, such as in: “Darauf wird man aber im folgenden Kapitel eingehen”. Evidently, man cannot refer to the speaker role, while in the same context the Italian si is well suitable. Starting from this interference error, the paper examines the possible range of reference of the two pronouns. It turns out that the most common reading of man and si in both languages is the generic one, which can be paraphrased as “everyone”. Systematic divergences, on the other hand, occur in the particular reading, i. e. when referring to single unspecified subjects. While the German man characterizes the subject as anonymous and does never include listeners or speakers (e. g: Gestern hat man bei uns eingebrochen; man ≈ ‘jemand’, ‘somebody’), the Italian si, according to the verb class (transitive, unergative, unaccusative, etc.), can or must be read as speaker-exclusive (Mi si è raccontato che ...; si ≈ ‘qualcuno’, ‘someone’) or as speaker-inclusive (Ieri si è andati al ristorante; si ≈ ‘noi’, ‘we’). The speaker-inclusive reading also occurs when si is used in academic texts as a substitute for the established form of speaker (author) reference by means of the 1st person plural (noi, ‘we’). In addition to man and si, other forms of indeterminate subjects are examined, namely the non-anaphoric uses of German “sie (pl.)” (Sie haben schon wieder die Preise erhöht.) and of the Italian 3rd person plural null subject (Ti hanno cercato.) as well as the so-called impersonal passive form in German (Es wird gemurmelt.).
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Unbestimmte Subjekte: zur problematischen Äquivalenz von deutschem man und italienischem si
Deutsche Sätze mit dem Subjekt man und italienische Sätze mit si impersonale bzw. si passivo/si passivante1 werden in kontrastiven Grammatiken oft als äquivalent dargestellt (cf. Bruno/Franch 1991: 150; Weerning/Mondello 1996: 84; Saibene 2002: 188; Bosco Coletsos2006: 63f.):
(1) Si vive una sola volta (si impersonale) ≈ Man lebt nur einmal.
(2) Si vedono le stelle (si passivo/passivante) ≈ Man sieht die Sterne.
Tatsächlich liegt vielfach eine Übersetzungsbeziehung vor, wie die Beispiele zeigen. Außerdem signalisieren sowohl man wie si, dass das Agens2 menschlich ist. Häufig wird darüber hinaus der man-Satz als gleichbedeutend mit einem Passivsatz ohne Agens-Ausdruck gewertet, nicht nur in kontrastiven Grammatiken, z. B. bei Bosco Coletsos (2006: 63)3, die beide Formen als Ausdruck der Unbestimmtheit des Agens („indeterminatezza dell’agente“) betrachtet, sondern auch in deutschen Referenzgrammatiken, z. B. bei Helbig/Buscha (2001: 165), welche die manKonstruktion als „mit den Passivformen weitgehend synonym“ ansehen, oder bei Engel (1991: 462), der man-Sätze als „wichtige lexikalische Parallelformen zum Passiv“ einstuft:4
(3) Man liest das Buch ≈ Das Buch wird gelesen. (Beispiel von Bosco Coletsos 2006: 63f.)
Die doppelte funktionale Gleichsetzung von man/si und man/Passiv ohne Agens erweist sich jedoch in bestimmten Kontexten als problematisch. In Examensarbeiten5 italienischer Deutschstudierender stößt man z. B. des Öfteren auf Formulierungen, in denen die Autoren und Autorinnen6 mit man auf die eigene Sprecherrolle Bezug nehmen:
(4) Dieses Thema ist allerdings der Anfangspunkt und deshalb hat ist bisher versucht worden, es einzuführen, indem man7 den Kern der Sache definiert und die wichtigsten Auffassungen und Stellungnahmen vorstellt. (Luccarda 2017: 6f.)
(5) Im Kommentar beschreibt man auch die Strategien, die angewandt worden sind, um diese Schwierigkeiten zu reduzieren. (Tison 2017: 2)
(6) Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling […] und Gotthilf Heinrich Schubert […] sind die beiden Persönlichkeiten, die man hier in Betracht zieht, um die hauptsächlichen Themen des Werks Hoffmanns zu verstehen. (Bianchini 2014: 20)
(7) Unter den mannigfachen Erörterungen dieser Idee verweist man hier nur auf die im Augenblick vollständigste Arbeit von […]. (Bianchini 2014: 6)
(8) In den Rönne-Novellen wird realisiert, „was in Ithaka noch Postulat war“ […]. Darauf wird man aber im folgenden Kapitel eingehen. (Cazzola 2013: 108)
Einmal abgesehen davon, dass bei textkommentierenden Sprechhandlungen (Aufbau, Vorgehensweise etc.) wissenschaftlicher Arbeiten kein Ich-Verbot (mehr) gilt (cf. Graefen 1997: 202), zeigen die Beispiele, dass Sprecher mit man nicht (ausschließlich) auf sich selbst referieren können. Allerdings kann sich man auch nicht auf andere konkrete Autoren beziehen:
(9) Ein Beispiel ist Pae (2004): Hier versucht man, den Geschlechtseffekt im Leseverständnis unter koreanischen Englisch-Studierenden zu messen. (Luccarda 2017: 13)
Das italienische si ist dagegen in vergleichbarer Funktion durchaus zulässig:
(10) Nel capitolo seguente si procederà a un tentativo di analisi, a partire dallo schema proposto da Propp. (Carrolo 2018: 66)
(11) Si è preso infatti in considerazione l’analisi dei livelli narrativi e delle infrazioni di essi,
?basandomi sul saggio I livelli della realtà in letteratura, mettendo in evidenza […]. (Madonna 2018: 2)
Auch könnten die oben angeführten ungrammatischen Beispielsätze aus Examensarbeiten italienischer Germanistikstudierender im Deutschen durchaus mit dem werden-Passiv ausgedrückt werden:
(5') Im Kommentar werden auch die Strategien beschrieben, die angewandt worden sind, um diese Schwierigkeiten zu reduzieren.
Offenbar besteht weder eine vollständige funktionale Entsprechung zwischen man und si impersonale.passivo noch zwischen man-Satz und Passivsatz ohne Agens.8
Daraus ergibt sich die Fragestellung, die im vorliegenden Beitrag bearbeitet werden soll:
1. Welchen Referenzbereich haben man und si bzw. welche Art von menschlichem Agens wird durch man bzw. si bezeichnet?
Daneben sollen zwei weitere Fragen untersucht werden:
2. Wodurch sind die verschiedenen Lesarten von man und si gesteuert?
3. Welche anderen grammatischen Formen dienen dem Ausdruck eines unbestimmten Agens?
Ein Ergebnis wird sein, dass man und si nicht in allen Kontexten äquivalent sind, i. e. in einer Übersetzungsbeziehung stehen.9 Obwohl beide Pronomen die Bedeutungen ‚jedermann‘ und ‚jemand‘ haben, also dieselbe Intension aufweisen, unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Extension, i. e. des Referenzbereichs. Insbesondere kann sich man in der Bedeutung ‚jemand‘ nie auf den Sprecher, und somit auch nicht auf den Autor einer Examensarbeit, beziehen. In funktionaler Hinsicht sind man und si also nur partiell äquivalent.
Ausgeklammert werden im vorliegenden Beitrag:
die morphosyntaktischen Eigenschaften von man (Suppletivformen, Genus, Anaphern etc.) (cf. Zifonun 2000; Zifonun 2001: 119–121; Attaviriyanupap 2012: 22f.);
die Frage, ob man Indefinitoder Personalpronomen ist (cf. Zifonun 2000, die sich für die Zwischenlösung „generisches Pronomen“ ausspricht);
In Abschnitt 2 werde ich zunächst den Referenzbereich von man diskutieren, in Abschnitt 3 denjenigen von si. Anschließend folgt in Abschnitt 4 ein Vergleich der beiden Referenzbereiche. Abschnitt 5 geht auf alternative Formen des Ausdrucks unbestimmter Subjekte ein, und zwar das (deutsche) nicht-anaphorische sie der 3. Person Plural bzw. das (italienische) nichtanaphorische Nullsubjekt der 3. Person Plural und das subjektlose werden-Passiv im Deutschen. Der Schlussteil fasst die Ergebnisse zusammen und skizziert Forschungsdesiderata.
Im Anschluss an Zifonun (2000), die ihrerseits an Dimova (1981) und Canisius (1994) anknüpft, und anhand des von ihr vorgeschlagenen Substitutionstests sind eine „generische“ und eine „partikuläre“ Verwendung bzw. Lesart von man unterscheidbar.
Generisches man kann mit jedermann, alle, jeder, der hier überhaupt in Frage kommt (cf. Zifonun 2000: 240) o. Ä. paraphrasiert werden. Es kann die gesamte Menschheit umfassen oder auch nur alle in einem bestimmten Kontext in Frage kommenden Menschen:
(12) Man lebt nur einmal ≈ Jedermann lebt nur einmal/Alle (Menschen) leben nur einmal.
(13) In Italien isst man viel Pasta ≈ In Italien essen alle Leute viel Pasta./In Italien essen die Leute viel Pasta.
(14) Gestern gab es eine Party: Man stand herum und plauderte ≈ Alle (Anwesenden) standen herum und plauderten.
Typisch für generische man-Sätze ist, dass sie Ausnahmen zulassen: Es handelt sich um „abgeschwächte Allaussagen“ Zifonun (2000: 237). Man kann in generischer Verwendung den Sprecher einschließen (z. B. in (12)) oder auch nicht (wie in (13), wenn der Sprecher kein Italiener ist). Typisch für generisches man sind „temporale Neutralität (generelles Präsens) und Fehlen lexikalischer Konkretisatoren im Kontext“ (Dimova 1981: 39), allerdings können, wie Beleg (14) zeigt, auch andere Tempora und/oder temporale Adverbien im Kontext auftreten.
Der generischen Verwendung lässt sich auch das „abstrahierende man“ zurechnen. Es „wird in Sätzen verwendet, die objektive Tatsachen als durch den Menschen wahrgenommen wiedergeben“ (Dimova 1981: 39):
(15) Menschen sah man nirgends.
Ebenso kann die normative Verwendung von man zur generischen Lesart gezählt werden (cf. Heidolph/Flämig/Motsch 1981: 655):
(16) Man wäscht sich die Hände, bevor man isst.
Partikuläres man hingegen bezeichnet ein bestimmtes, wenn auch indefinites, anonymes Subjekt und kann mit jemand, irgendjemand paraphrasiert werden:
(17) Man hat ihm sein Fahrrad gestohlen ≈ Jemand/Irgendjemand hat ihm sein Fahrrad gestohlen.
Laut Dimova (1981: 39) wird beim „anonymen man“, wie sie es bezeichnet, „keine temporale Neutralität vorausgesetzt, i. e., es wird in Sätzen verwendet, die konkrete Tatsachen der Realität widerspiegeln und somit alle Tempusformen enthalten können“.
Ähnlich wie jemand kann sich partikuläres mannicht auf Sprecher oder Hörer beziehen, denn diese sind nicht anonym. Heidolph/Flämig/Motsch (1981: 653) erwähnen explizit, dass man nicht für den Autorenplural („pluralis modestiae“) eintreten kann:
(18) *Im folgenden Kapitel wird man den Bau von UHF-Antennen behandeln. (ibd., Asterisk i O.)
Für ich kann man nach Auffassung der „Grundzüge“-Autoren nur dann eintreten, wenn eine Verallgemeinerung vorliegt, i. e. wenn ausgedrückt wird, dass „der Sprecher sich einem bestimmten Verhaltensmuster entsprechend verhält, das gesellschaftlich vorgegeben ist“ (653):
(19) Wie wirst du mit deiner Arbeit fertig? – Man tut, was man kann/*Man hat noch drei Räder zu montieren. (ibd., Asterisk i. O.)
Dann liegt aber keine partikuläre, sondern generische Verwendung vor (Jedermann [auch ich] tut, was er kann). Ähnliches gilt für die meisten von Dimova (1981) angeführten Beispiele aus literarischen Texten, mit denen sie belegt, dass sich man auf alle im Kontext eingeführten Personen, inklusive Sprecher und Hörer (ich, du, er.sie, wir, ihr, sie) beziehen kann. Laut Zifonun (2000: 241) ist damit keine Synonymie begründet, i. e. es handelt sich nicht um lexikalische Bedeutungen von man, sondern lediglich um konversationelle Implikaturen:
(20) [...], eilten von allen Tischen die Kollegen herbei: man wußte, daß nun Anekdoten kommen würden, [...]. (Mann 1971: 52) (≈ sie pl.)
(21) Still, ihr müßt auf mich hören, ich besitze nämlich gewisse Anrechte, daß man auf mich noch einmal hört. (Wolf, zitiert nach Dimova 1981: 39 und Zifonun 2000: 241). (≈ ihr)
(22) Ein junger Mann [...] besteht darauf, meinen Whisky zu zahlen, weil er Vater geworden ist.[...] Er stellt sich vor und will wissen, wie man heißt, wieviel Kinder man hat, vor allem Söhne; ich sage „Five“. (Frisch 1966: 217). (≈ ich)
Laut Zifonun (2000: 242) zeigen diese Belege, „dass mit der Verwendung von man stets der Effekt der Typisierung oder Anonymisierung verbunden ist, der mit dem Gebrauch entsprechender Personalpronomina nicht erzielt würde.“ Zudem sei die Implikatur, i. e. die dem Personalpronomen entsprechende engere Lesart keineswegs zwingend, die generische Interpretation könne ebenso geltend gemacht werden (ibd.). Mit Zifonun subsumiere ich daher die von Dimova (1981) angeführten Beispiele für die „pronominale“ Lesart von man unter die generische Verwendung (kontextuell eingebettetes generisches man).
Eine sprecherinklusive generische Verwendung von man findet sich – wie Zifonun (ibd.) anmerkt – häufig im mündlichen Sprachgebrauch zwecks Signalisierung der Verallgemeinerbarkeit:
(23) dafür könn wa endlich mal ein bißchen weiter rausfahren können uns mal/können da hin fahren wo man + ehm früher nicht hinkonnte also hat man zu hause gesessen am Wochenende [...]. (Dittmar/Bredel 1999: 179)
Auch könne sie dem „strategischen oder sogar manipulativen Sprachgebrauch“ (ibd.: 243) dienen, wenn nämlich der Sprecher durch die Verwendung von man die Verantwortung für sein Handeln auf ein pauschales man abschiebe.
Zifonun ist überzeugt, dass der ausschließliche Bezug auf den Sprecher „in der gegenwärtigen Gemeinsprache kaum noch vorkommen dürfte“ (ibd.: 242); im Grimm’schen Wörterbuch fänden sich fast nur Goethe-Belege „für diese Form der Selbstbezeichnung, bei der man ein Ich nicht mehr exemplarisch für Jedermann oder einen Typus darstellt, sondern man schlicht eine (manierierte, verhüllende oder distanzierende) Bezeichnungsalternative zu ich“ sei:
(24) durchlaucht dem herzog konnt ich am 24., als am tage, wo er nach berlin reiste, für die bis zuletzt ununterbrochene Sorgfalt mit erheitertem geiste danken: denn an diesem tage hatte sich das äuge wieder geöffnet, und man durfte hoffen, frei und vollständig abermals in die welt zu schauen. (Goethe, zit. nach Zifonun 2000: 242)
Aber selbst hier könnte man ein Element der Verallgemeinerung bzw. Typisierung darin erkennen, dass die erwähnte Hoffnung auf Heilung überindividuell nachvollziehbar ist. Die dem Goethe-Beispiel im DWB (s. v. man) vorangeschickte Bedeutungsbeschreibung lautet nicht zufällig: „man schlieszt in seiner unbestimmtheit ein bestimmtes subject mit ein. a) ein ich, wenn dasselbe nicht ausdrücklich hervorgehoben, nicht von einer allgemeinheit oder unbestimmtheit völlig losgelöst werden soll.“
Laut Heidolph/Flämig/Motsch (1981: 656) ist ein sprecherinklusiver Gebrauch (man≈‚wir‘) nur dann möglich, wenn es um die Angemessenheit des Verhaltens geht, womit gleichzeitig eine Verallgemeinerung ins Spiel kommt:
(25) Wann fährt man morgen früh ab? (man nicht gleich ‚wir‘!) (ibd.)
(26) Wann fährt man morgen früh am besten ab? (ibd.)
Eine Verallgemeinerung – und entsprechend geringere Verbindlichkeit – liegt ebenso in der Grußformel man sieht sich vor.
Auch bei Bezug auf die Hörerrolle unterstreichen Heidolph/Flämig/Motsch (1981: 655) den Aspekt der Verallgemeinerbarkeit:
(27) Wie fühlt man sich so als junger Ehemann?
Wenn „es sich um einmalige, nicht generalisierbare Situationen handelt, wird die Äußerung gewöhnlich als Ironie verstanden“ (ibd.):
(28) Oh, man trägt heute das schwarze Abendkleid!
Die quantitative Verteilung der beiden Lesarten von man wird von Zifonun (2000: 248), aufbauend auf Dimova (1981) mit knapp 82% für die generische Verwendung gegenüber gut 18% für die partikuläre (bei Dimova: anonyme) Lesart angegeben. Attaviriyanupap (2012: 27) gibt für ihr Korpus ein Verhältnis von ca. 90:10 zugunsten der generischen Lesart an.
Fassen wir zusammen:
Kontextuell bedingt kann sich generisches man dank Implikatur auch auf die Sprecherrolle, die Hörerrolle oder einzelne Dritte beziehen, wobei:
gleichzeitig eine Verallgemeinerung oder Typisierung ausgedrückt wird oder
die fehlende Verallgemeinerbarkeit eine ironische, scherzhafte Wirkung erzeugt.
generische Verwendung scheidet aus, weil jede Verallgemeinerung dem Begriff der Urheberschaft widersprechen würde und Ironie in wissenschaftlichen Texten fehl am Platze wäre;
partikuläre Verwendung ist ebenfalls ausgeschlossen, da der Autor bereits identifiziert ist.
D’Alessandro (2007: 135) unterscheidet aufbauend auf Cinque (1988, 1995) und Chierchia (1995) eine (quasi)-universelle und eine (quasi)-existenzielle Lesart von si:
(29) In Italia si beve molto vino (quasi-universell).
(30) Ieri in Italia si è giocato male (quasi-existenziell).
Diese beiden Lesarten sind vergleichbar mit der generischen und partikulären Lesart bei Zifonun, denn auch hier sind Paraphrasen mit jedermann/chiunque, tutti bzw. jemand/qualcuno möglich. Auch scheint, wie im Deutschen, das grammatische Tempus die Lesart zu beeinflussen: Der Satz im presente wird universell (generisch) gelesen, der Satz im passato prossimo (und mit dem Temporaladverb ieri/gestern) hingegen existenziell (partikulär).
Nach Cinque (1988, 1995) ergibt sich die existenzielle Lesart aus einem spezifischen Zeitbezug („specific time reference“). D’Alessandro (2007) zeigt, dass neben Tempus und Adverbialen auch die Aktionsart des Verbs („Verbalcharakter“ bei Hoffmann/Strecker/Zifonun 1997: 1861) eine Rolle spielt. Verbsemantik, Tempus und Satzkontext bedingen gemeinsam, ob das Geschehen als eines mit oder ohne Endpunkt dargestellt wird. Wird kein Endpunkt visualisiert (unboundedness, imperfektives Geschehen), so ergibt sich nach D’Alessandro (2007) die generische (quasi-universelle) Lesart. Wird dagegen ein solcher visualisiert (boundedness, perfektives Geschehen), so resultiert daraus die partikuläre (existenzielle) Lesart.10
Bei der existenziellen Lesart von si sind allerdings zwei Subtypen zu unterscheiden:
a) In perfektiven Sätzen mit transitiven Verben oder mit unergativen11 Verben (intransitiven Verben, die das passato prossimo mit avere bilden) kann si sprecherexklusiv oder, wie D’Alessandro (2007) zeigt, sprecherinklusiv interpretiert werden:
(31) Oggi, a Beirut, si è ucciso un innocente. (transitiv, sprecherexklusiv). (Cinque 1995: 148)
(32) Oggi, a Beirut, si è sparato tutta la mattina (unergativ, sprecherexklusiv). (Cinque 1995: 148)
(33) Mi si è raccontata una storia falsa. (transitiv, sprecherexklusiv) (D’Alessandro 2007: 133)
(34) Da perfetti buongustai, ieri sera si è mangiato caviale (transitiv, sprecherinklusiv). (D’Alessandro 2007: 144)
(35) Da bravi cittadini, si è telefonato spesso alla polizia negli ultimi giorni (unergativ, sprecherinklusiv). (D’Alessandro 2007: 145)
In (31) und (32) wird die sprecherexklusive Lesart dadurch nahegelegt, dass der (italienische) Sprecher kaum an einem Tötungsdelikt oder an kriegerischen Handlungen im Libanon beteiligt gewesen sein dürfte; andererseits ist die sprecherinklusive Lesart nicht völlig ausgeschlossen. Auch in Satz (33) ist sie nur pragmatisch bedingt: Der Sprecher kann nicht gleichzeitig Urheber und Adressat der Erzählung sein. In (34) und (35) wird die sprecherinklusive Lesart durch die subjektbezogenen prädikativen Nominalphrasen (da perfetti buongustai, da bravi cittadini) erzwungen (cf. Kratzer 2000). Prinzipiell jedoch stehen bei transitiven und unergativen Verben beide Lesarten zur Verfügung. Sätze wie Ieri si è raccontata una bella storiaoder Ieri si è dormito tutto il giorno können sowohl sprecherinklusiv wie -exklusiv gelesen werden.
b) Bei allen anderen Verben12, insbesondere bei den ergativen bzw. unakkusativischen Verben (intransitiven Verben, die das passato prossimo mit essere bilden), ist dagegen ausschließlich die sprecherinklusive Lesart (‚wir’) möglich:
(36) Ieri si è arrivati in ritardo (= Ieri noi siamo arrivati in ritardo).
(37) Da allora si è migliorati notevolmente (= Da allora siamo migliorati notevolmente).
Dazu gibt es im Deutschen keine Entsprechung. Zwar kann das „pronominale“ man auch als koreferent mit einem im Kontext vorkommenden wir interpretiert werden, aber diese Interpretation ist nie zwingend und fällt unter das generische man. Im Italienischen dagegen ist sie – unter den genannten Bedingungen – unabhängig vom Kontext die einzig mögliche und gehört zur partikulären Lesart.
Interessanterweise sind die Fälle a) und b) auch morphologisch klar voneinander geschieden: Bei den transitiven und unergativen Verben zeigt das Partizip Perfekt nämlich Singularmorphologie (si è sparato)13, bei den ausschließlich sprecherinklusiv zu lesenden Verben dagegen das Pluralmorphem -i .si è arrivati).14
Der Bezug auf den Sprecher, wie er beim si der „modestiae auctoris“ auftritt, wird weder von Cinque (1988, 1995) noch D’Alessandro (2007) thematisiert. Er gehört offenbar zur existenziellen (partikulären) Verwendung von si, weil konkrete Handlungen des Sprechers/der Sprecherin dargestellt werden. Außerdem ist er in perfektiven Sätzen auch bei unakkusativischen Verben (nel primo capitolo si è partiti da …) zulässig, die wie gezeigt keine generische Interpretation zulassen. Bei transitiven und unergativen Verben ist wiederum neben der sprecherinklusiven (autorbezogenen) Lesart auch eine sprecherexklusive Interpretation zulässig, wie das folgende, vom Verfasser konstruierte Beispiel zeigt:
(38) Nell’ultimo capitolo si sono riassunti i risultati dell’indagine. (Sprecherinklusive Lesart z. B. in einem Abstract: ≈ Im letzten Kapitel habe ich die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst.)
(39) Nell’ultimo capitolo si sono riassunti i risultati dell’indagine. (Sprecherexklusive Lesart z. B. in einer Rezension: ≈ Im letzten Kapitel hat die Autorin die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst.)
Derselbe Satz kann sich auf die eigene Veröffentlichung des Autors beziehen (z. B. im Abstract, Beispiel (38)) oder auf das Werk eines anderen Wissenschaftlers (z. B. in einer Rezension, Beispiel (39)).
Die übrigen Verben dagegen haben in perfektiven Sätzen immer eine sprecherbezogene Lesart:
(40) Nel capitolo seguente si procederà a un tentativo di analisi, a partire dallo schema proposto da Propp. (Masterarbeit) (unakkusativisches Verb; si = Sprecher)
(41) In base ai testi analizzati, si è convinti che […]. (Kopulaverb; si = Sprecher)
Auf den ersten Blick scheint ein Widerspruch zu bestehen zwischen der existenziellen sprecherinklusiven Lesart (Sprecher ist Teil eines größeren Wir) und dem ausschließlich auf den Sprecher selbst bezogenen Gebrauch der modestiae auctoris. Die Verwendung pluralischer Formen für singularische Sprecher oder Hörer ist aber ein Phänomen, das auch bei Personalpronomen (Sprecherbzw. Hörerdeixis) auftritt (cf. zum Italienischen Renzi/Salvi/Cardinaletti 2001b: 350–364; zum Deutschen Heidolph/Flämig/Motsch 1981: 651–656). Insbesondere ist in vielen europäischen Sprachen, so auch im Italienischen, die Verwendung von „wir“ als Autorenplural üblich. Dieses „wir“ kann z. T. als Bezug auf eine reale Gruppe (Autor+Mitarbeiter; Autor+andere Vertreter der Disziplin; Autor+Leser), z. T. als textsortengebundene konventionalisierte Ich-Vermeidung interpretiert werden (cf. Graefen 1997: 207–211). Jedenfalls kann sich die sprecherinklusive Lesart des autorbezogenen si auf eine in italienischen wissenschaftlichen Texten fest etablierte Verwendung der 1. Person Plural mit gleicher Funktion stützen.
Explizite Berücksichtigung findet das si der modestiae auctoris bei Wehr (1995). Wehr definiert für das Italienische eine eigene Diathese (SE-Diathese), welche die (pragmatische) Funktion hat, den Umstand auszudrücken, dass es ein menschliches Agens gibt, das aber nicht spezifiziert ist und syntaktisch nicht realisiert werden kann. Wehr unterscheidet drei funktionale Varianten dieser mit si realisierten SE-Diathese (ibd.: 55f.): neutral (generisch oder partikulär), modal (abstrahierend oder normativ) und stilistisch (spezifisches Agens ist aus dem Kontext erschließbar). Die stilistische Funktion, zu der Wehr auch die sprecherinklusive Lesart zählt, ist mit folgenden Beispielen belegt (ibd.: 56):
(42) si può sapere chi è quel frate? (si = io)
noi si rispose che non si sapeva nulla (si = noi)
sentite ragazzi, non si può far finta di non averci visto? (si = voi)
Im ersten und dritten Satz liegt m. E. ein kontextuell eingebettetes generisches si vor, wie es ähnlich auch beim deutschen man auftritt (siehe oben Abschnitt 2). Der zweite (perfektive) Satz hat eine existenzielle (partikuläre) Lesart, die aber aufgrund des unergativen Verbs hinsichtlich der Inbzw. Exklusion des Sprechers unbestimmt bleibt und erst durch das im Kontext auftretende „noi“ zugunsten der Wir-Interpretation entschieden wird. In allen drei Fällen ist es berechtigt, eine stilistische Funktion anzusetzen, auch wenn es sich um verschiedene Lesarten (generisch vs. partikulär) handelt. Allerdings fehlen bei Wehr perfektive Sätze mit unakkusativischen (u. a.) Verben, die kontextunabhängig nur eine sprecherinklusive Lesart zulassen. Unter die stilistische Funktion fällt bei Wehr auch die Verwendung des si zur „Vermeidung der Nennung des Autors“ (ibd.: 241), sowohl im Altitalienischen (ibd.: 176f.) wie im Neuitalienischen (ibd.: 240–242).15 Für Neuitalienisch führt Wehr folgende Belege an:
(43) per quanto avrei delle riserve da fare sulle sue conclusioni: se ne riparlerà in uno dei prossimi numeri della rivista. (A. Castellani, SLI 2, 1961, 68)
(44) Si sono naturalmente introdotte le maiuscole secondo l’uso moderno. (Bertolucci Pizzorusso 1981: 397)
Wiederum zitiert Wehr Beispiele mit transitivem bzw. unergativem Verb, bei denen der Kontext tatsächlich eine Rolle spielt und es berechtigt erscheinen mag, von einer „stilistischen Funktion“ zu sprechen. Es fehlen aber auch hier Beispiele mit unakkusativischen (u. a.) Verben (si è partiti dall’idea…), bei denen die Wir-Lesart kontextunabhängig ist.
Fassen wir zusammen:
Im Italienischen gibt es eine generische und eine existenzielle Lesart von si, die durch Aktionsart, grammatisches Tempus und Adverbiale gesteuert sind.
Bei transitiven und unergativen Verben ist kontextabhängig eine sprecherexklusive (qualcuno) oder sprecherinklusive Interpretation (noi) möglich;
Bei allen anderen, insbesondere den unakkusativischen Verben wird si stets sprecherinklusiv (noi) interpretiert.
In beiden Sprachen dominiert eine generische (quasi-universelle) Lesart von man bzw. si, die von der gesamten Menschheit bis zu allen in einem bestimmten Kontext in Frage kommenden Personen reicht (Paraphrase: jedermann, alle):
(45) Man lebt nur einmal. ≈ Si vive una volta sola.
(46) In Paris trägt man die Haare kurz. ≈ A Parigi si portano i capelli corti.
Kontextbedingt kann sich diese Lesart in beiden Sprachen dank Implikatur auf konkrete Personen beziehen (Dimova (1981): pronominaler Gebrauch; Wehr (1995): stilistische Funktion), wobei der Verwendung von man bzw. si anstelle von ich, du etc. immer das semantische Merkmal der Verallgemeinerung oder Typisierung anhaftet (Zifonun 2001):
(47) Darf man reinkommen? = Si può entrare? (ich/io)
Wo eine solche Generizität den Tatsachen widerspricht, ergibt sich via Implikatur ein Effekt der Ironie, der scherzhaften Redeweise, des Understatements, der Distanzierung o. Ä.:
(48) Oh, heute ist man aber elegant! = Che eleganti che si è oggi! (du/tu)
Davon zu unterscheiden ist eine zweite, sekundäre Lesart, bei der der Referenzbereich von man bzw. si auf wenige identifizierbare, wenngleich nicht-spezifizierte Personen eingeschränkt ist: der partikuläre (Zifonun 2001) oder anonyme (Dimova 1981) Gebrauch im Deutschen, der existenzielle Gebrauch (Cinque 1988, 1995; D’Alessandro 2007) bzw. der „einmalige Sachverhalt“ (Wehr 1995) im Italienischen. Im Italienischen scheint diese Lesart durch Tempus, temporale Adverbiale und Aktionsart des Verbs bedingt zu sein, insofern dadurch ein Endpunkt des Geschehens visualisiert wird. Für manscheint zumindest das Tempus eine Rolle zu spielen, es wären aber vertiefende Studien nötig:
(49) Man hat mir erzählt, dass … = Mi si è raccontato che …
Im Deutschen ist der partikuläre Gebrauch immer sprecherexklusiv. Im Italienischen hingegen ist er bei transitiven und unergativen Verben kontextbedingt als sprecherinklusiv oder sprecherexklusiv interpretierbar, bei allen anderen Verben nur sprecherinklusiv:
(50) Letztes Jahr hat man das Haus saniert. (sprecherexklusiv) vs. L’anno scorso si è ristrutturata la casa. (sprecherinklusiv oder sprecherexklusiv)
(51) Ieri si è arrivati tardi. (sprecherinklusiv)
Im Deutschen kann sich der Autor eines wissenschaftlichen Textes mit man nicht auf die eigene Sprecherrolle beziehen, denn: a) eine (kontextuell eingebettete) generische Lesart widerspräche aufgrund des semantischen Merkmals der Verallgemeinerung oder Typisierung dem Konzept der Urheberschaft; auch eine scherzhaft oder ironisch wirkende kontrafaktische Verallgemeinerung wäre im wissenschaftlichen Diskurs fehl am Platze; b) eine partikuläre Lesart ist im Deutschen immer anonym und kann sich daher weder auf den Sprecher noch auf andere durch den Kontext bestimmte Personen (z. B. andere Autoren) beziehen.
Im Italienischen dagegen hat die existenzielle Lesart von si, zu der auch das Autoren-si gehört, bei transitiven oder unergativen Verben potenziell, bei allen anderen Verben obligatorisch eine sprecherinklusive Bedeutung, die man in wissenschaftlichen Veröffentlichungen als Parallele zur etablierten Form des Sprecherbezugs mit dem Personalpronomen (oder Nullsubjekt) der 1. Person Plural (noi/wir) interpretieren kann.
Ergänzend wird zunächst geprüft, welche Referenzbereiche das (deutsche) nicht-anaphorische sie bzw. das italienische nicht-anaphorische Nullsubjekt der 3. Person Plural – auch im Vergleich zu man und si – aufweisen. In einem zweiten Schritt (5.2) wird dann das deutsche subjektlose Passiv beschrieben.
Laut Duden (2006: 273) steht “[d]ie Pluralform sie […] häufig ohne Beziehung auf ein vorangehendes Substantiv für mehr oder weniger anonyme Personen, Organe, Institutionen und dergleichen (die Leute, man, der Staat, Unbekannte etc.)“:
(52) Jetzt wollen sie mir auch noch das Land wegnehmen!
(53) Heute Nacht haben sie mal wieder in unseren Keller eingebrochen. (Beispiele nach Duden 2006: 273)
Diese nicht-anaphorische Verwendung von sie (Pl.) entspricht laut Zifonun (2001: 122, dort auch die folgenden Beispiele) dem partikulären Gebrauch von man und kommt vor allem umgangssprachlich vor (cf. auch Zifonun 2000: 249):
(54) Sie haben letzte Woche bei uns eingebrochen. (≈ Jemand hat bei uns eingebrochen.)
(55) Sie haben schon wieder die Buspreise erhöht. (≈ Jemand hat schon wieder die Buspreise erhöht.)
In der Tat lassen sich die Beispielsätze (mehr oder weniger überzeugend) mit jemand paraphrasieren. Wie bei man schließt der partikuläre Gebrauch Sprecher und Hörer stets aus.
Die angeführten Beispiele enthalten transitive bzw. unergative Verben. Bei unakkusativischen Verben in perfektiven Sätzen lässt sich sie kaum als nicht-anaphorisch auffassen:
(56) Letztes Jahr sind sie spurlos verschwunden./Gestern sind sie vom Gerüst gefallen./Sie sind an Grippe gestorben. (anaphorisches sie)
In manchen Kontexten jedoch scheinen unakkusativische Verben, i. e. Verben, deren Partizip Perfekt das Subjekt attribuieren kann, in perfektiven Sätzen eine nicht-anaphorische Interpretation zuzulassen:
(57) Neulich sind sie nachts bei uns ins Haus eingestiegen.
Hier ließe sich einwenden, dass einsteigen eine von menschlichen Entscheidungen abhängige Tätigkeit ist, weshalb das Subjekt agentivische Züge trägt. Unakkusativische Verben, bei denen das Subjekt das Patiens eines nicht willentlich herbeigeführten Geschehens ausdrückt (wie fallen und sterben in (56)) scheinen nicht-anaphorisches sie eindeutiger auszuschließen.
Bei Zifonun (2000: 249, 2001: 122) erscheint die partikuläre Verwendung als einzig mögliche. Eine generische Lesart des nicht-anaphorischen sie ist tatsächlich problematisch:
(58) *Sie leben nur einmal. (Im Sinne von: ‚Man lebt nur einmal‘.)
Bei räumlicher oder zeitlicher Einschränkung erscheint eine generische Lesart jedoch eher akzeptabel, wobei im Gegensatz zur generischen Lesart von man Sprecher und Hörer nie zum Referenzbereich von sie gehören:
(59) ?In dieser Gegend fangen sie Singvögel. (siehe (56); im Sinne von: In dieser Gegend fängt man/fangen die Leute Singvögel.)
(60) ?In Paris tragen sie die Haare kurz. (cf. Wehr 1995: 55; im Sinne von: In Paris trägt man/tragen die Leute die Haare kurz.)
(61) ?Im Mittelalter trugen sie keine Unterwäsche. (Internetbeleg; im Sinne von: Im Mittelalter trug man/trugen die Leute keine Unterwäsche.)
Für das Italienische wird eine doppelte Lesart angenommen (Renzi/Salvi/Cardinaletti 2001a: 112f.), wobei auch hier Sprecher und Hörer stets ausgeschlossen sind. Eine generische Lesart (‚jedermann‘, ‚die Leute‘) liegt vor in:
(62) Da queste parti ammazzano gli uccellini per mangiarli con la polenta. (ibd.: 113)
(63) Qui, vanno a scuola già a quattro anni. (Cinque 1995: 153)
(64) In questo ufficio, sono molto gentili col pubblico. (ibd.)
Die partikuläre Lesart (‚jemand‘, evtl. auch nur eine Person) findet sich in perfektiven Sätzen wie:
(65) Hanno ammazzato compare Turiddu! (Verga/Mascagni, zit. nach Renzi/Salvi/Cardinaletti 2001: 113.)
(66) Hanno di nuovo aumentato i prezzi dei biglietti! (Übersetzung des Verf. von (55))
Nach Cinque (1995: 149–155) weisen in perfektiven Sätzen nur transitive und unergative Verben eine solche unspezische (partikuläre) Lesart auf. Diese Verben seien nämlich nicht auf eine pluralische Interpretation festgelegt, sondern erlaubten singularische Fortführungen:
(67) Ti hanno cercato: era un signore anziano. (Cinque 1995: 149)
(68) Prima, hanno telefonato: mi pareva tua sorella. (Cinque 1995: 149)
Bei allen anderen Verben dagegen führen laut Cinque (1995) singularische Folgekontexte zur Ungrammatikalität,16 weshalb anaphorische Verwendung anzunehmen ist:
(69) *Sono venuti a vedere: era un signore anziano. (ergatives/unakkusativisches Verb, Cinque 1995: 149)
(70) *Ieri sono stati villani con tutti: era tuo fratello. (Kopulaverb, Cinque 1995: 150)
(71) *Sono stati catturati: era un ragazzo. (passivisches Verb, Cinque 1995: 150)
Nicht alle unakkusativischen Verben scheinen aber auf die anaphorische pluralische Interpretation festgelegt zu sein. In folgenden Sätzen z. B. ist plausibel, dass der Sprecher das Subjekt weder kennt noch gesehen hat, so dass eine nicht-anaphorische Verwendung naheliegt. Dennoch könnte es sich um einen einzelnen Kurierfahrer/Postboten bzw. Einbrecher gehandelt haben (siehe die Fortführungen):
(72) Sono venuti a consegnare il pacco, ma non ero in casa, quindi hanno lasciato un avviso sulla buca delle lettere. (Il nostro vicino ha visto l’addetto del corriere.)
(73) Ieri notte sono entrati nel nostro garage e hanno rubato le bici. (Nessuno ha visto il ladro – o i ladri.)
Ähnlich wie im Deutschen könnte die Möglichkeit der nicht-anaphorischen Lesart von venire und entrare allerdings dadurch bedingt sein, dass bei diesen Verben das Subjekt zumindest teilweise Agensqualität hat. Es handelt sich offenbar nicht um typische Vertreter der unakkusativischen Verben.17
Fassen wir unsere Beobachtungen zur nicht-anaphorischen Verwendung des Personalpronomens bzw. Nullsubjekts der 3. Person Plural im Deutschen und Italienischen zusammen:
Deutsche Sätze mit Passivmorphologie, in denen kein Subjekt auftritt, werden traditionell als „unpersönliches Passiv“ klassifiziert.
(74) Dem/Einem Toten wird vergeben. (Hoffmann/Strecker/Zifonun 1997: 1793)
(75) Es wird gemurmelt/gepfiffen. (Cf. Wehr 1995: 23, 27)
(76) Darüber wird von der Kommission nicht beraten.
Passender ist die Bezeichnung „subjektloses Passiv“, denn das Agens ist hier immer eine Person (+hum) (oder Institution), auch wenn es nicht ausgedrückt ist (cf. Wehr 1995: 28).
Der Satz in (75) kann sich z. B. nicht auf das Geräusch eines Bachs, des Windes oder eines Teekessels beziehen (cf. Wehr 1995: 27; Hoffmann/Strecker/Zifonun 1997: 1805):
(77) Es wird [*vom Bach] gemurmelt.
(78) Es wird [*vom Wind] gepfiffen.
Hoffmann/Strecker/Zifonun (1997: 1793) verwenden die Bezeichnung „Eintakt-Passiv“, weil der Ausdruck des Agens als Subjekt blockiert wird, aber kein Patiens oder ein anderes Element in die Subjektfunktion nachrückt.
Das Eintakt-Passiv unterliegt starken Beschränkungen hinsichtlich der verwendbaren Verben (Hoffmann/Strecker/Zifonun 1997: 1805–1808): Grundsätzlich ist es nur bei transitiven (essen, lesen, kochen) und unergativen Verben (schlafen, arbeiten, lachen) möglich, also bei den Verben, die das Perfekt mit haben bilden (zu Einzelheiten und Ausnahmen cf. ibd.):
(79) Es wird gekocht/gegessen (transitives Verb)/gemurmelt/geschlafen (unakkusativisches Verb)
(80) Es wird *angekommen/*gefallen/?gestorben/?gewachsen (unergative Verben)
Im Italienischen kommt subjektloses Passiv nur marginal und zwar in biblischer Sprache vor:
(81) Chiedete e vi sarà dato. (Lukasevangelium 11: 1–13)
Obwohl beide Formen – subjektloses Passiv und man-Satz – ein menschliches Agens erfordern, besteht ein wichtiger Unterschied:
Das Eintakt-Passiv als solches bedingt weder eine generische noch eine partikuläre (anonyme) Interpretation; es ist daher auch zulässig, wenn der Sprecher selbst Handelnder ist: Im vorliegenden Beitrag wird davon ausgegangen, dass [...]
Im man-Satz ist das Agens entweder generisch oder partikulär/anonym. Gibt es keinen Grund für Verallgemeinerung oder Typisierung und ist das Agens aus dem Kontext bekannt, dann lässt sich man nicht einsetzen, vor allem kann es sich dann nicht auf die Sprecherrolle selbst beziehen.
Die Analyse hat gezeigt, dass der Kontrast zwischen Deutsch und Italienisch im Hinblick auf den Einsatz unbestimmter Subjekte nicht konventionell an einen bestimmten Kontext (Sprecherbzw. Autorenbezug in wissenschaftlichen Texten) gebunden ist, sondern allgemeinen Differenzen zwischen man und si im Hinblick auf ihre Referenzbereiche entspringt. Wenn die grundlegende generische Lesart (die via Implikatur auch auf im Kontext erwähnte Personen bezogen werden kann) beim deutschen man ausscheidet, dann bleibt nur eine partikuläre Interpretation, die immer Anonymität des Subjekts voraussetzt. Das italienische si dagegen kennt, wenn generische Interpretation ausgeschlossen ist, zwei Ausweichmöglichkeiten: bei transitiven und unergativen Verben die sprecherinklusive oder -exklusive, bei unakkusativischen (kopulativen etc.) Verben nur die sprecherinklusive Lesart. Die beiden Pronomen sind somit weitgehend, aber nicht in allen Kontexten äquivalent.
Im Hinblick auf das Deutsche erscheint es lohnend, zwei Fragen genauer zu untersuchen, und zwar möglichst mittels korpusbasierter Studien:
Zunächst einmal fragt sich, ob die für das Italienische postulierten Bedingungsfaktoren der universellen vs. existenziellen Interpretation, i. e. insbesondere die Visualisierung eines Endpunkts des verbalen Geschehens (mittels Aktionsart des Verbs, grammatischem Tempus, temporalen Adverbialen etc.) auch für die generische vs. partikuläre Interpretation im Deutschen ausschlaggebend sind.
Der zweite Punkt betrifft den möglichen Einfluss der Verbklasse (transitiv, unergativ, unakkusativisch, kopulativ etc.) und der Aktionsart auf den Referenzbereich von man. Wie gezeigt, wird im Italienischen in perfektiven Sätzen mit unakkusativischen Verben (Ieri si è andati a casa presto) zwangsläufig die sprecherinklusive Lesart (‚wir‘) aktiviert. Offenbar lässt sich hier keine völlig unbestimmte, anonyme Interpretation durchhalten. Der Grund könnte darin liegen, dass bei unakkusativischen Verben das Subjekt (in der semantischen Rolle des Patiens) notwendiger Teil der Darstellung eines Geschehens ist und nicht unbestimmt bleiben darf, sofern es sich um einen einzelnen, abgeschlossenen Sachverhalt handelt. Zu untersuchen wäre, ob im Deutschen perfektive man-Sätze mit unakkusativischen Verben überhaupt sinnvoll interpretiert werden können. Zu erwarten sind Schwierigkeiten, denn die semantischen Widersprüche bestehen natürlich auch im Deutschen. Nicht zufällig sind unakkusativische Verben im Deutschen ja auch nicht passivfähig (*Es wird gegangen. *Gestern ist gestorben worden. *Es wurde verschwunden.). Da im Deutschen die Ausweichmöglichkeit auf die sprecherinklusive Lesart nicht gegeben ist, sind Sätze wie .Gestern ist man gestorben. .Neulich ist man verschwunden vermutlich nicht sinnvoll interpretierbar, es sei denn sie werden so eingebettet, dass sie generisch interpretiert werden können (Im Mittelalter ist man an Pest gestorben - man = ‚jedermann‘). Eine einschlägige Korpusstudie müsste sich u. a. mit der Analyse von Belegen wie diesem befassen:
(82) Guten Morgen Derbysieger! ?Gestern ist man erfolgreich in das erste Pflichtspiel im neuen Jahr gestartet. Das Nachholspiel gegen den SV Staufenberg konnte man mit 1:4 für sich entscheiden. (Internetbeleg)
Zunächst einmal fragt sich, ob starten ein unakkusativisches Verb ist. Die Möglichkeit der Attribuierung des Subjekts mit dem Partizip Perfekt (die erfolgreich ins neue Jahr gestartete Mannschaft) spricht dafür, zugleich aber ist nicht völlig ausgeschlossen, dass das Subjekt (auch) agentivische Züge trägt. Im zweiten Schritt wäre zu klären, ob eine generische Interpretation (im Sinne von „alle in der Situation in Frage kommenden Personen“) möglich wäre. Würde zunächst der Kontext angegeben, der den fraglichen Personenkreis eingrenzt, so erschiene der Satz eher grammatisch:
(83) Beim gestrigen Pflichtspiel gegen den SV Staufenberg ist man erfolgreich ins neue Jahr gestartet. (man = ‚alle in Frage kommenden Personen, i. e. alle Spieler der Mannschaft‘)
Die Schwierigkeit, in einem Korpus perfektive Sätze mit eindeutig unakkusativischen Verben zu finden, die nicht generisch deutbar sind, würde dafür sprechen, dass das Deutsche eine (semantisch begründete) Lücke dort hat, wo das Italienische auf die Wir-Interpretation ausweichen kann.
Nicht-anaphorische Subjekte der 3. Person Plural (das deutsche sie und das italienische Nullsubjekt) weisen viele Parallelen untereinander und mit man bzw. si auf. Vorrangig dienen sie dem Ausdruck einer partikulären, anonymen Lesart (‚jemand‘). Sprecher und Hörer sind in diesem Fall in beiden Sprachen aus dem Referenzbereich ausgeschlossen. Das Problem der Nicht-Interpretierbarkeit von perfektiven Sätzen mit unakkusativischen Verben stellt sich in diesem Fall auch im Italienischen, i. e. sie und Nullsubjekte sind in solchen Sätzen nur anaphorisch lesbar. Bei der generischen Lesart, die fürs Deutsche in der Literatur nicht belegt ist und genauer zu untersuchen wäre, ist der Sprecher ebenfalls nie mitgemeint. Auffallend ist, dass diese Lesart (anders als bei man und si) keinen universellen Anspruch erheben kann, sondern immer auf bestimmte zeitliche oder räumliche Kontexte eingeschränkt sein muss (Subjekt sind die in dem jeweiligen Kontext in Frage kommenden Personen). Das agentivische Subjekt ist also möglicherweise mittels Präsupposition gegeben, so dass auf semantischer Ebene das Pronomen sie bzw. das Nullsubjekt als anaphorisch interpretierbar wären.
Das subjektlose Passiv existiert nur im Deutschen, während das Italienische in äquivalenten Sätzen auf die si-Form zurückgreift. Das sog. Eintaktpassiv hat mit man-Sätzen gemein, dass das Agens als menschlich gekennzeichnet wird, aber es vermittelt als solches weder eine generische noch eine partikuläre Lesart. Ähnlich wie beim Zweitakt-Passiv kann daher auch der Sprecher selbst Urheber des Geschehens sein. Gewöhnlich tritt das subjektlose Passiv nur bei transitiven und unergativen Verben auf, denn bei den übrigen Verbklassen (unakkusativisch, kopulativ etc.) fehlt das erforderliche Agens. Es zeigt sich wiederum, dass die Verbklasse auf vielfältige Weise mit der Interpretation eines unbestimmten Subjekts bzw. Agens interagiert: beim Passiv (im Italienischen nur bei transitiven, im Deutschen auch bei unergativen Verben zulässig), beim nicht-anaphorischen sie bzw. Nullsubjekt und auch bei man bzw. si. Besonders bei man wäre es sinnvoll, diese Zusammenhänge korpusbasiert genauer zu untersuchen.