Book and Film Reviews
NEAPELS UNTERWELT, Über die Möglichkeit einer Stadt
NEAPELS UNTERWELT, Über die Möglichkeit einer Stadt
Tsantsa, vol. 25, Esp., pp. 196-198, 2020
Universität Bern
Ulrich van Loyen. 2018. Berlin: Matthes & Seitz Berlin. 978-3-95757-471-8. 456 S. |
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Publicación: 21 Septiembre 2020
Dass einer ethnographischen Studie so viel Aufmerksamkeit zuteilwird wie van Loyens Buch über Neapels Unterwelt (Besprechungen u. a. in der ZEITund Süddeutschen Zeitung), verdankt sich wohl dem Faszinosum Neapel. Von Goethe bis Turner, von Saviano bis Ferrante haben sich dichte Bild-Schichten über die Stadt gelegt. Dagegen wirken die Tuffsteinschichten, auf denen sie lagert, noch als das schmalere Stratum, das es auf der Suche nach der «Matrix der Stadt» (Klappentext) zu durchdringen gilt. Ausgangspunkt dieser Suche sind die unter dem Tuffstein liegenden Fontanelle, Neapels bekannteste Katakomben. Dieser unterirdische Friedhof stellt zunächst die Unterwelt dar, in welcher der Verfasser dem Totenkult nachgehen möchte. Grundlegend geht es um die «Einbindung des Negativen in das Selbstverständnis der Stadt und ihrer Bewohner» (S. 9). In der Art, wie man sich in Neapel «an Krankheit und Verbrechen, an Drogen und dem Altern» (S. 9) abarbeitet, vermutet van Loyen ein Spezifikum. Dabei bleibt das «Negative» recht unbestimmt; hauptsächlich sieht der Autor es wohl im Tod manifestiert, was das Interesse am Totenkult als besonderer, ritueller Form seiner Einbindung in Leben und Alltag einiger NeapolitanerInnen begründet.
Das Feld konstituiert sich aus vier Teilen: 1. Das Viertel Sanità, das keine administrative Einheit mehr bildet, dessen BewohnerInnen umso mehr aber eine gemeinsame kulturelle und religiöse Geschichte anrufen. 2. Die Unterkirche der Basilika San Pietro ad Aram im Stadtzentrum und 3. die Krypta von San Cosma e Damiano im nördlichen Secondigliano, wo je noch Totenkulte präsent sind. 4. Der Kult der Madonna dell’Arco, dessen Pilgerziel am Fusse des Vesuvs liegt.
In den Fontanelle, am Rande der Sanità, erweist sich der gesuchte Totenoder anime-Kult als historisches Relikt. Nach erzbischöflichen Verbotsbemühungen seit den 1970er-Jahren, der zeitweiligen Schliessung und nunmehr der touristischen Verwertung der Knochensammlungen ist für Devotion nicht mehr viel Raum. Dennoch wird hier der Kontakt zu drei Frauen aus Secondigliano geknüpft. Sie bringen van Loyen zur Krypta von San Cosma e Damiano. Dort liegen die Schädel teils hinter Glas, teils hinter Mauerwerk. Die Kult-Praxis besteht in einer Art Abschreiten der Krypta mit Berührungen, Begrüssungen und Gebeten hier und da oder dem Zurücklassen eines Gedenkbildchens. Den anonymen Toten wird die Ehre erwiesen, wobei magische Absichten eine Rolle spielen und die Frömmigkeit mit konkreter caritas enggeführt wird, wenn die beteiligten Frauen im Caritas-Zentrum nicht nur für die Seelen im Fegefeuer beten, sondern auch Essen zubereiten und an Bedürftige ausgeben.
In San Pietro ad Aram gestaltet sich der Totenkult anders – hier rücken zwei Protagonistinnen ins Zentrum, Gianna und Lella. Den narrativen Kern des Buches bilden lange Passagen aus dem Feldtagebuch über Lellas Initiation: Eine Freundin hatte sie in die Krypta mitgenommen, um einen Schädel zu adoptieren, woraufhin die Toten sie im Traum kontaktierten. Das Gebet für einen anonymen Toten kann dessen Zeit im Purgatorium verkürzen, andererseits hilft dieser schon einmal bei einem Problem mit einer Geschäftslizenz weiter. Dennoch betont Lella, dass es keine Tauschbeziehung, sondern eine wirkliche Freundschaft sei, im Gegensatz zum potentiell problematischen Verhältnis zu toten Verwandten, da die Beziehung zu den unbekannten Toten unbelastet ist – wodurch sie gerade für Frauen ein Entlastungsmoment von gesellschaftlichen Ansprüchen darstellen kann.
An der Sorge für sich und für andere, die sich in den beschriebenen anime-Kulten manifestiert, erkennt van Loyen drei Funktionen: 1. «Plausibilisierung einer Matrix für die Bildung von idealtypischen […] Verwandtschaftsbeziehungen»; 2. Schaffung «prinzipiell wohlgesinnter Ahnen» sowie 3. eines «Bewusstseins der Zugehörigkeit zu einem Ort» (S. 195). Abschliessend fragt sich der Verfasser, warum ausgerechnet in der Sanità, die von ihren soziologischen Voraussetzungen (etwa sozioökonomische Deklassiertheit und zerrüttete Familienstrukturen) her fruchtbarer Boden für den Totenkult sein müsste, derselbe nurmehr in der Erinnerung existiert – soweit historisiert, dass er bereits touristisiert werden kann. Die Antwort sieht er darin, dass die Funktionsstelle des Kultes, gesellschaftliche Kohäsion durch lokale Verankerung und Konstruktion positiv besetzter Genealogien zu schaffen, hier durch eine «identitätspolitische Mobilisierung» (S. 234) besetzt wird. «Ich-Stärkung und Empowerment» kann dabei über religiöse ebenso wie über politische oder andere Ressourcen erfolgen, in jeweils spezifischen Ausprägungen des (süd)italienischen «Associazionismo sociale» (S. 234): Verschiedene soziale, kulturelle und religiöse Vereine und Initiativen sowie Einzelpersonen setzen sich für ‹ihr› Viertel ein und mobilisieren zu diesem Zwecke die kulturhistorische Einheit sowie Besonderheiten der Sanità, etwa ihre zahlreichen Katakomben.
Beim Madonna dell’Arco-Kult handelt es sich, im Gegensatz zu den informellen anime-Kulten, um eine religiöse Form des associazionismo (Vereinswesens). In der Sanità sowie in der gesamten Stadt gibt es unzählige Vereine der Madonna dell’Arco, die regelmässig mit Standarten und Blasmusik umherziehen, Heiligenbilder durch akrobatische Fahnentänze ehren und Geld einsammeln. Höhepunkt des Kultes ist am Ostermontag die Prozession zum Heiligtum der Madonna in Sant’Anastasia, die in einer Art ekstatischen Entladung vor dem Bild der Heiligen endet. Der Verfasser deutet diese Devotion – entgegen dem matrifokalen anime-Kult und dessen «Kritik an Sozialund Verwandtschaftsformen» (S. 344) – als über die jeweiligen Vereinspräsidenten patrilinear vermittelten Kult, der die «richtige» Familie zelebriert, indem die associazioni Identität und Zusammenhalt stiften, wobei diese Art von Empowerment ohne Kritik an den Verhältnissen auskommt.
Mit Totenkult, Madonnenkult und sozialem Engagement, das gleichzeitig identitätspolitischer Einsatz ist, sind Formen der neapolitanischen Arbeit am Negativen herausgearbeitet, die nicht getrennt auftreten, sondern sich überlappen und an den vier Orten unterschiedlich ausgeprägt sind. Diese viergliedrige Topologie bildet auch die Grundstruktur des Bandes, dem leider eine Karte zur Orientierung fehlt. Immer wieder sind ausführliche Passagen aus dem Feldtagebuch eingeflochten, die das Untersuchte greifbar machen. Die Prosa rutscht manchmal aber ins Lyrische und der Feldforscher zieht die Maske des Literaten auf, was den analytischen Gehalt von Passagen wie der folgenden nicht immer leichter verständlich macht: «Dann wieder stehe ich auf der Brücke über der Sanità. Es ist Juni, der Sommer sollte erst beginnen, aber man spürt schon die Schwere seines Endes, wenn die Hoffnung des Jahres zerronnen sein wird und man wieder von vorn anfangen muss» (S. 68).
Die Konklusion bietet eine Einordnung in die Geschichte der Süditalienethnographie (die den gesamten Band durchzieht): Die «Entdeckung einer italienischen Binnenexotik» (S. 348) durch Carlo Levi, Ernesto de Martino u. a. in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde politisch gewendet, insofern die Phänomene des Südens als undomestizierte Widerstandskräfte gegen die Nivellierungen der Industriemoderne gesehen wurden. In der Gegenwart ist es die endgültig sich durchsetzende Verwertungsnotwendigkeit, die zur monetarisierbaren «Eventisierung» (S. 349) auch der alten Riten führt: Katakomben und Krypten werden heute mehr von TouristInnen denn von anime-Devoten besucht. An dieser Stelle enthüllt sich die Rede von der Möglichkeit einer Stadt im Untertitel: Durch die «Überlebensstrategie der Selbstbezüglichkeit» (S. 352), die auf der «Lokalisierung des Universalen» (S. 349) mittels verschiedener Formen der Einbindung des Negativen beruht, werden spezifisch neapolitanische Traditionen nicht zu Spielarten einer neuen, öffnenden Urbanität, sondern lassen die BewohnerInnen in einen selbstbezüglichen, fatalistischen Provinzialismus verstrickt. Eine Anschlussfrage wäre, ob dieses lokale Phänomen nicht sich zu einer globalen Antwort auf Dauerkrisenhaftigkeit entwickelt. Hier wäre Neapel mit der Verdichtung des Phänomens dann Avantgarde. Was kann eine ethnologische Entflechtung dieser Dichte leisten? “To tell the tale and heal” heisst es in The Broken Fountain, Thomas Belmontes urban anthropology-Klassiker über Neapel (2005 [1979]: xxvi); ein Satz, den van Loyen seinem Band als Motto voranstellt. To heal also? Vielleicht erst einmal: to tell the tale, aber nicht als fabula, sondern als Erzählskelett, das nie ganz fertiggepuzzelt ist. Insofern wäre ein anderes Zitat von Belmonte nicht unpassend: “No sooner would I discern a pattern in the chaos of shapes confronting me, than the design would rearrange itself into what looked like something else” (op. cit.: ix). Das gilt für das Feld, das gilt aber auch für das Buch – eine ethnographische Studie, die ein beständiges rearranging auch im Text spiegelt und so, notwendigerweise auf Kosten der Lesbarkeit, eine überzeugende Deutung von mehr als nur Neapels Unterwelt vorlegt.
Literaturverzeichnis
Belmonte Thomas. 2005 (1979). The Broken Fountain. Twenty-fifth Anniversary Edition. New York: Columbia University Press.