Book and Film Reviews
Friedli Andrea. 2018. Wien. Lit Verlag. 978-3-643-80230-9. 312 S |
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Publicación: 21 Septiembre 2020
Diese Monografie über urbane Jugendkultur im postsozialistischen Kazan ist spannend, weil sie Lesenden aufzeigt, wie stark das Verständnis von Ethnizität und ihre strategische Nutzung an die lokale Geschichte der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und die konkreten Macht verhältnisse gebunden ist. Ausgehend von den Konzepten der Jugend und der Ethnizität legt Andrea Friedli dar, wie junge tatarische Frauen und Männer in Kazan ihre ethnische, lingu istische und religiöse Zugehörigkeiten einsetzen um ihren Platz in der politischen und wirt schaftlichen Öffentlichkeit in Tatarstan, einer Republik der russischen Föderation zu behaup ten. Die Monografie schafft eine Grundlage für das Verständnis von Diskursen über Jugend und multikulturelle Vielfalt aus der Perspektive einer nationalen Minderheit in einer post sozialistischen Gesellschaft. Diese sind sowohl von einem «ethnokulturellen Verständnis von Nation» als auch von einer «Staatsnation basierend auf einer civic culture» (kursiv im Original, S. 16) geprägt. Dabei stellt auch in Tatarstan, mit einer russischen Minderheit, die linguis tischreligiöse Ethnizität der russischen Föderation einen ethnonationalen Mehrheitsdiskurs dar, die der tatarischen Mehrheitsbevölkerung als offizieller staatlicher Diskurs auferlegt ist. Hinzu kommt, dass die Jugendkultur selbst vom russischen Staat stark kontrolliert wird und die Jugend als «tragender Teil einer neuen Gesellschaft» durch Jugendorganisationen strate gisch beeinflusst wird (S. 26).
Die jungen tatarischen Frauen und Männer, deren «Kollektivitäten» und «Repräsentationen im öffentlichen Raum» (S. 35) die Autorin untersucht, gehören zur ersten postsozialistischen Generation. Die jungen Leute inszenieren tatarische Ethnizität in der urbanen Öffentlichkeit situativ und ganz strategisch, deshalb konzentriert sich die Autorin vor allem auf Ethnizität als individuell eingesetztes soziales und symbolisches Kapital. In postsozialistischen Gesell schaften mit einer öffentlichen Kultur des Misstrauens, einem ethnokulturellen und zivilen Staatsdiskurs, bildet die tatarische Zugehörigkeit der Bevölkerungsmehrheit die Grundlage für Vertrauensnetzwerke, auch wenn tatarische Jugendorganisationen zivile oder kosmopoli tische Diskurse vertreten.
Anhand der «nationalen Frage» in Tatarstan illustriert die Autorin, dass jede Anthropolo gie in postsozialistischen Gesellschaften sich mit dem marxistischleninistischen geprägten sozialwissenschaftlichen Erbe auseinandersetzen muss. Denn die deskriptive, sozialistische Ethnografie in Verbindung mit einer theoretisch orientierten Ethnologie und einem ethnonati onal geprägten sozialistischen Multikulturalismus ist in den gegenwärtigen postsozialistische identitätspolitischen Diskursen mit einem «persönlichen sowie eine[m] territorialen Nations begriff» präsent (S. 77). Tatarstan ist eine mit Sonderrechten ausgestattete teilautonome Repu blik (S. 122) in der russischen Föderation. In Tatarstan kreisen die Diskurse zur Nation um (a) staatliche Souveränität, (b) einen pluralistischen, multikulturellen, zivilen Diskurs, und (c) einen ethnonationalen tatarischen Diskurs (S. 100). Der letztere bezieht sich auf den Islam, die territorialen Souveränität, die ethnische Herkunft und die tatarische Sprache (S. 101).
Kazan, an der Wolga und mit einer Million Einwohnenden, ist die Hauptstadt von Tatarstan und die drittgrösste Stadt in Russland. Seit den 1920er-Jahren wanderte die tatarische Bevöl kerung massiv nach Kazan ein. Ganz Tatarstan hat heute eine Bevölkerung von ca. 3,8 Mil lionen, zu 53 % tatarischer Herkunft und 39 % russischer Herkunft. In Kazan interviewte die Autorin viele Jugendliche, nahm an Internetforen teil und verschaffte sich einen Überblick über staatliche und informelle Jugendorganisationen, vom Jugendflügel der Regierungspartei, über Sport und Theatervereine bis zu religiösen Organisationen. Im Zentrum stand das Ver hältnis der Jugendlichen zum Staat, und ihre Netzwerke, bestehend aus Kontakten zu vielen verschiedenen Organisationen (S. 146).
Auf der Basis ihrer Feldforschung (von 2007 bis 2010) zeigt die Autorin auf, dass die sym bolische Konstruktion der kollektiven Identität, der ethnokulturellen Zugehörigkeiten und der Grenzziehungsstrategien der tatarischen Jugendlichen im öffentlichen Raum situationsge bunden, überlagert und flexibel sind. Sie beruht aus der Sicht der Jugendlichen wechselweise auf folgenden Elementen: Auf der Geschichte der Vertreibung der Tataren aus den Städten durch die Russen im 16. Jahrhundert, dem Gefühl tatarisch zu sein und so anerkannt zu sein, einem ausgeprägten Sinn für Familie, einer differenzierten Abgrenzung gegen das Russische und den Kommunismus, der Abgrenzung gegen Oberflächlichkeit und dekadente Verwest lichung, sowie auf der moralischen Überlegenheit des Islams.
Das tatarische Identitätsmanagement der jungen Leute besteht in einem Balanceakt der individuellen Positionierungen zwischen institutionalisierten und informellen Zugehörigkei ten. Ethnokulturelle Affiliationen werden eingesetzt, um sich in einem offiziellen, russisch dominierten Kontext, hinsichtlich Bildungs, Arbeits und Wohnmöglichkeiten möglichst vor teilhaft zu positionieren (S. 213 ff.). Die Jugendorganisationen sind für sie Orte der Interkul turalität und der ethnonationalen Mobilisierung, struktur und gemeinschaftsstiftende Orte, und Orte sowohl der Institutionalisierung wie des Widerstandes. Die tatarischen Jugend organisationen verstehen sich als multikulturell und tolerant (S. 234). Sie erobern den urba nen öffentlichen Raum mit der tatarischen Sprache, den muslimischen Werten und mit der historisch-kulturellen Anerkennung. Dabei nutzen die Jugendlichen in (in-)formellen tatari schen Jugendorganisationen ethnokulturelle Vertrauensnetzwerke, informelle Inszenierungen und Kontakte: «Partizipation in den offiziellen politischen Institutionen wird ganz nach der Logik einer Gesellschaft des öffentlichen Misstrauens von den Jugendlichen als Streben nach Selbstbereicherung und Karriere angesehen» (S. 254). Die Jugendlichen begreifen ihre Zuge hörigkeit als Ressource, verwenden diese wechselweise als soziales oder symbolisches Kapital und spielen damit gekonnt in offiziellen Strukturen wie in informellen Kontexten.
Auf politischer und konzeptueller Ebene betreffen die tatarischen Narrative der Abgren zung zum signifikanten Andern den Kampf gegen die Russifizierung, symbolisiert durch den Kampf des Schneeleoparden als dem «weisen, diskreten und moralischen Tataren» gegen den «(russischen) blutrünstige[n] schwarzen Adler» (S. 262), die Abgrenzung gegen den dekaden ten Westen und die Abgrenzung gegen die «ignoranten ländlichen Tataren» (erste Klammer und kursiv im Original, S. 263). Die Zugehörigkeiten sind inund exkludierend, vermischen und überlagern sich. Die tatarischen Jugendlichen wägen ab zwischen patriotischer russländischer Zugehörigkeit, wozu sie aus der Sicht der Moskauer Führung erzogen werden sollten, tatari scher Zugehörigkeit und globalen Jugendtrends, die sie ungeniert lokal uminterpretieren. Da ihnen die staatlich kontrollierten Medien öffentlicher Repräsentation nur begrenzt zur Ver fügung stehen, bedienen sich Jugendorganisationen für die Artikulation kollektiver Identität «demiotischer» (S. 273) Kanäle (Theater, Konzerte, Jugendsender, Zeitungen). Die tatarischen Jugendorganisationen vertreten Diskurse der «symbolischen Aufwertung und der politischen Anerkennung» (S. 274). Die tatarischen Jugendlichen verwenden die Organisationen als Platt formen zur «Aushandlung von ethnokulturellen Grenzen» und zur «Einflussnahme» auf «poli tische Behörden» (S. 278) und benutzen personalisierte ethnokulturelle Netzwerke «als im Wettbewerb mobilisierbare Ressourcen» (S. 279).
Die Monografie beruht auf einem umfangreichen Wissen über sowjetische Geschichte, die postsozialistische russische Föderation und deren Jugendpolitik, sowie der Jugendorganisati onen in Tatarstan. Sie zeugt von einer profunden Kenntnis der (post-)sozialistischen anthro pologischen Diskurse, die zwischen einer einheimischpostsozialistischen und externenwest lichen Perspektive unterscheiden, und einer soliden Kenntnis der russischen und tatarischen Sprachen. Obwohl für nichtrussisch oder tatarisch Sprechende ein Glossar fehlt und die Prä sentation der verschiedenen Institutionen manchmal sehr dicht und in verschiedene Kapitel verteilt ist, gelingt es der Autorin, die semantischen Felder von Ethnizität, Staat und Nation in Kazan und den tengrianischen Islam in Tatarstan verständlich darzustellen. Der eigenständige Einblick in den aus westlicher Sicht oft nur stereotyp bekannten gesellschaftlichen Kontext regt zum Nachdenken darüber an, wie anthropologische Begrifflichkeiten weltanschaulich geprägt sind, wie Jugendpolitik staatlich instrumentalisiert wird und wie gewandt Jugend liche darin sind, die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen gewinnbringend einzusetzen.