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HOMMAGE AN BORIS BOLLER 1962–2020
Tsantsa, vol. 25, Esp., pp. 223-224, 2020
Universität Bern

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Publicación: 21 Septiembre 2020

DOI: https://doi.org/10.36950/tsantsa.2020.025.29

«Wer kennt schon die Zustände, die etwa ein zum Verkauf von Pro-Juventute-Briefmarken oder Wanderkalendern angestellter Schüler durchstehen muss?» So lautet der Schlusssatz in einem der ersten anthropologischen Texte von Boris Boller. Der Artikel «Schwellen und Ängste. Vom Wesen einer Grenze und eines Übergangs» (1990) beginnt bei van Gennep’s Übergangsriten und integriert Begriffe wie die Tyrannei der Intimität von Sennett, den Prozess der Zivilisation von Elias und die Analyse zu Nacktheit und Scham von Dürr. Anhand von Darstellungen konkreter Schwellen in Comics – von Dagobert Duck über das «matrimonio infernale» bis hin zu Batman –, anhand auch von Landesgrenzen, ausgehängten Türen in Wohngemeinschaften der 1970er-Jahre oder überwachungstechnischer Attrappen in Warenhäusern, zeigt der Text die Gefahren auf, denen sich Menschen beim Überschreiten von Schwellen drinnen und draussen aussetzen. Ob sich der Autor mit der Vielfalt der satirisch kombinierten Perspektiven einen Ort ‹draussen vor der Tür› schafft, bei dem auch Lesende kaum einen sicheren Halt finden?

Misiones hin und zurück: die Geschichte einer gescheiterten Wanderung aus der Sicht von remigrierten Schweizern aus Misiones in Argentinien (1990) ist der Titel seiner Lizentiatsarbeit. Darin verarbeitet Boris Boller wohl auch ein Stück Familiengeschichte, die einen Onkel und dessen in Brasilien lebende Familie betrifft. In dieser Abschlussarbeit verbindet Boris Ethno­ logie und Geschichte, seine Studienfächer neben Journalistik. Er thematisiert Migration aus der Perspektive des Scheiterns, was gerade auch nach dem Fall der Berliner Mauer und während einer Periode enthusiastischer Globalisierung einen unerwartet kritischen Standpunkt beobachtenden Reflektierens erlaubte. Wenn Foucault sinngemäss einmal äusserte, die noble Seite des Wissens sei es, dieses gekonnt in Frage zu stellen, so war auch Boris geadelt von einem stets tastenden, vielfältig zweifelndem und trotzdem von Witz beflügeltem Suchen.

Für die sozialanthropologische Diskursanalyse von Medien entwickelte Boris Boller eine breit anerkannte Expertise. Er liebte es seit seiner Zeit als Journalist beim Bund, Leserbriefe zu analysieren. Über dieses Thema sprach er jedoch eher zu später Stunde und in fröhlicher Runde. Seine Dissertation Drogen und Öffentlichkeit in der Schweiz. Eine sozialanthropologische Analyse der drogenpolitischen Kommunikation der 1990er Jahre (2005/2007) zeichnet den Wandel der öffentlichen Drogendiskurse empirisch nach. Diese methodische und thematische Expertise hatte er sich durch seine Forschungen bei und mit Jean Widmer erarbeitet. Die 1990er-Jahre, so schien mir, verbrachte Boris vor allem zwischen Zeitungsstapeln in einem Büro am Institut für Journalismus, im Erdgeschoss der Universität Miséricorde in Fribourg. Rund 120 Tageszeitungen aus allen Sprachregionen der Schweiz durchforschte das Forschungsteam mit statistischen Kriterien während Jahren nach Texten über Drogen. Resultate dieses Forschungsprojektes finden sich etwa in dem von Jean Widmer, Renata Coray und Boris Boller herausgegebenen Band Drogen im Spannungsfeld der Öffentlichkeit: Logik der Medien und Institutionen (1997).

Am Institut für Journalismus führte Boris Boller danach Medienanalysen auch für verschiedene andere Auftraggeber durch. So war er Mitglied der Bergier-Kommission, zeichnete mit Kurt Imhof und Patrick Ettinger verantwortlich für den Bericht «Flüchtlinge als Thema der öffentlichen politischen Kommunikation in der Schweiz 1938–1947» (1999/2001). Es folgten Studien zum Thema «Organisierte Kriminalität in der Schweiz» (2002) mit Josef Estermann und Rahel Zschokke und zum Thema «Kontrolldispositive der Geldwäscherei. Analysenschwerpunkte des Schweizer Dispositivs und erste Vergleiche mit dem kanadischen Dispositiv» (2006) mit Nicolas Queloz und Fabrice Haag.

Im Laufe der Jahre übernahm Boris Boller Lehraufträge, Mandate an Fachhochschulen der Pflege, der Sozialen Arbeit und der Pädagogischen Hochschule Bern. Unter anderem wurde er so, zusammen mit Kathrin Oester und Elke­Nicole Kappus, Herausgeber von Écoles et contextes transnationaux: exigences pour la recherche et l’enseignement, eines des Themenhefte der Schweizerischen Zeitschrift für Bildungswissenschaft (2007).

Während mehr als zehn Jahren engagierte er sich sehr aktiv in der Redaktionskommission von TSANTSA. Alle schätzten die belesene Kompetenz von Boris, sein stets verlässliches Engagement, seine offene und konziliante Art und seinen schrägen Humor. Er war verantwortlich für die Rubrik der Bildessays. 2010 gab er zusammen mit Sibylle Bihr das Schwerpunktdossier «Anthropologie und Journalismus» heraus.

Boris war ein Studienkollege von mir. Wir lernten uns zu Beginn der 1980er­Jahre in den Freitagsvorlesungen der Ethnologie kennen, in den (Pro­)Seminaren mit Hugo Huber, Hans­Peter von Aarburg und Kathrin Oester, später in jenen mit Christian Giordano. Beide gehörten wir zu den Studierendengruppen, die im Onsernonetal Feldforschungserfahrungen sammelten (1984) und in Coimbra (Portugal) an der zweiten EASA­Konferenz (1991) teilnahmen.

Während seiner Studienzeit in Fribourg wohnte Boris in Bern, es war auch dort aufgewachsen und sprach Berndeutsch. Sein Geburtsort jedoch liege im Thurgau, erwähnte er gelegentlich, mokierte sich dann aber gleichzeitig wieder über den dortigen Dialekt. Das Pendeln über die deutsch-französische Sprachgrenze hinweg sollte er beibehalten. Fragen der Zweiund Mehrsprachigkeit thematisierte er auch in den Kolumnen, die er zwischen 2006 und 2016 für die Freiburger Nachrichten mit mehr als nur einen kleinen Prise Ironie schrieb. Mit einem kaum merklich nach oben gezogenen rechten Mundwinkel ergründete er als Gastkolumnist auch andere Untiefen des politischen Alltags elegant und vergnügt.

Boris ist am 4. März ganz plötzlich an den Folgen eines Hirnschlages gestorben. Die Nachricht habe ich erst einen Monat später erhalten, sie geht mir immer noch sehr nahe. Seine Angehörigen haben über die Todesanzeige eine für Boris wunderbar passende Strophe eines Gedichtes von Baudelaire gesetzt, das Gainsbourg einst gesungen hat:

« Comme un navire qui s’éveille / Au vent du matin / Mon âme rêveuse s’appareille / Pour un ciel lointain ».



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